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Wie gute Freunde von mir wissen, kann ich bekanntlich mit den Begriffen "Westmusik" und "Ostrock" nicht viel anfangen. Das liegt zum einen daran, dass ich auch einmal selbst musiziert und Instrumente (Violine, Gitarre, Mandoline) gespielt habe und man dadurch eher eine Unterscheidung in gut oder weniger gut mit auf den Weg bekommt. Zum anderem habe ich mich schon immer sehr vielseitig interessiert. Neben den Kultsendungen wie "Bravo Musikbox", dem "Rias Treffpunkt" oder "SF-Beat", klebte mein Ohr auch an heimischen Sendern, die begannen, unsere Szene medial einzufangen und zu fördern. Außerdem habe ich viele meiner Platten damals in den Berliner Kulturzentren von Ungarn, Polen und der CSSR gekauft. Bei all dem, ob Radio oder Platte, gab und gibt es immer nur ein einziges Kriterium: Die Musik muss mir gefallen. Für mich sind die Charts kein Maßstab für Qualität, sondern bestenfalls für verkaufte Menge und wie man heute Spitzenplätze "votet", muss auch keinem mehr erklärt werden. Da wird etwas "organisiert", egal wie die musikalische Substanz aussieht. Hätte ich mich schon damals nur an den Hitparaden orientiert, wären mir, sowohl national als auch international, viele Bands und Künstler verborgen geblieben, weil meine Vorstellungen nicht die der Masse waren oder sind. Eine dieser Scheiben, die unbemerkt musikalische Maßstäbe gesetzt hat, möchte ich gern wieder an eine kleine Öffentlichkeit heben. Ich vermute mal, kaum einer wird sie kennen und dennoch hat diese Scheibe eine bleibende "Duftnote" in Polen, und nicht nur dort, gesetzt.

KLAN ist in diesem Fall eine polnische Jazz-Rock-Band, die nur in der kurzen Zeitspanne von 1969 bis 1971 existierte und sich dann wieder auflöste. Die Gruppe schaffte es aber, außer einer EP, ein Album zu veröffentlichen, das es in sich hat. Diese Platte symbolisiert für Polen quasi die Zeit zwischen noch Beat und schon Rockmusik. Die Musik zum Ballett "Ameisenhaufen" ist von ganz unterschiedlichen Einflüssen geprägt und klingt doch immer ganz typisch polnisch, weil sie aus der reichhaltigen Folklore unseres Nachbarlandes schöpft. Niemals danach hat es eine andere polnische Band geschafft, eine Palette zwischen Folk, Jazz, Rock, Psychedelic, Latin und freien Experimenten so konsequent und leichtfüßig zu vertonen, wie auf diesem Album "Mrowsiko" (Ameisenhaufen) geschehen. Die dreizehn Songs widerspiegeln das anonyme und quirlige Leben der Menschen, die wie Gesichtslose im Moloch der Großstadt aneinander vorüber und vorbei leben. Dafür wählten die Musiker um den Komponisten MAREK ALASZEWSKI und den Lyriker MARIAN SKOLARSKI das Synonym des großen Kribbelns wie in einem Ameisenhaufen. Das war zu jener Zeit sehr gewagt, hatte eine gute Portion Kritik im Gepäck, wurde aber in einzigartiger Manier musikalisch auf Platte und auch live, wie zum Beispiel in Opole 1970, umgesetzt.

Es beginnt genau so, wie man sich einen Spaziergang in den Wald hinein vorstellt. Vögel zwitschern und Grillen zirpen, wenn "Sen" (Der Traum) beginnt. Die Geräusche des Waldes empfangen uns mit all ihrer schönen Faszination und führen den Fremden mit lockenden Klängen von Orgel und Gitarren in Versuchung ("Kuszenie"). Auf einem vielschichtigen Rhythmusgeflecht wird man entführt und landet wenig später bei "Nerwy Miast" (Nerven der Großstädte), einem weit ausladenden Stück mit beinahe beschwörendem Gesang, das sich heißer Blues- und flotten Swing-Einlagen bedient, um wenig später in träumerisch schwelgende Passagen auszuwachsen. "Senne Wedrowki" (Wandernde Träume) klingt schwermütig und berauschend schön, aber auch faszinierend unterkühlt und wächst sich hymnisch aus. Die beiden folgenden Stücke, als Tänze gedacht, leben von opulenten Soundkollagen und ständig wechselnden Breaks, ohne die entstehenden Stimmung zu zerstören. Danach endet die erste LP-Seite mit "Na Przekor" (Gegen alles), elegisch versponnenen Klängen sowie einem hymnisch ausladenden Chor, Gospel durchaus ähnlich. Obwohl dies sieben, inhaltlich voneinander abgesetzte, Kompositionen sind, erfährt man sie alle als eine in sich geschlossene Suite.

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In gleicher Weise erlebt der Hörer die zweite Seite der Platte, in die man mit "Nasze Mysli" (Unsere Gedanken), hinein gelockt wird. Wieder wird man mit filigranen Gitarren und Orgelklängen entführt, irgendwo zwischen Folk und Slow-Blues feinfühlig eingeladen und von Gesangsstimmen eingefangen. Das folgende Titelstück "Mrowisko" (Ameisenhaufen) basiert auf dem Spiel einer Akustik-Gitarre, um sich aus deren Spiel in ein opulentes schwermütiges Werk auszuweiten, das sich irgendwo im Nichts zu verlieren scheint. Wir sind in der "Landschaft der leeren Rahmen" (Pejzass Pustych Ram) angelangt. Hier verschmilzt Folk mit gregorianisch anmutenden Kirchengesängen, wie sie dem Kenner von einem anderen großen Künstler Polens in Erinnerung geblieben sind. Der nun folgende "Tanz des Hungrigen" (Taniec Glodnego) erinnert mit seinem überaus markanten Flötenspiel an einen anderen Großen des Genres. Obwohl der zu jener Zeit gerade erst begann, seinen Stil zu finden, sind die Parallelen umso erstaunlicher. Mit der folgenden "Epidemia Eufori" (Euphorische Epidemie) sind wir mitten in einem wilden und freien Tanz, in dem die Rhythmen mit den Instrumenten (Orgel, Gitarre, Bass) zu spielen scheinen, ehe die Geschichte endet, wie sie begann - mit einem Traum ("Sen") und den Klängen der Natur. Damit endet auch der zweite Teil der durchgängig gestalteten Suite, die von der Idee her eigentlich eine Ballettmusik darstellt.

Ich weiß noch genau, dass ich mir damals das Album nur wegen des völlig anderen und interessanten Cover-Artworks gekauft habe. Gehört hatte ich die Musik bis dahin nicht und dann später, als ich mich schon in das Kleinod verliebt hatte, war davon auch nichts im Rundfunk zu hören. Zu schnell rannten die aufkommenden populären Rockströmungen in Polen, aber auch in der DDR, darüber hinweg und verhinderten eine größere Popularität der Band und ihrer einzigartigen Musik. Aber auch heute, da vieles nur noch nach Kommerz, den Charts, den Verkaufszahlen und dem schnellen Geld schielt, große Konzerne mit ausgeklügelten Strategien die Meinungen machen und den Geschmack manipulieren, hätte dieses kleine Kunstwerk leider keine Chance. Musik ist über weite Strecken zum reinen Produkt verkommen und das erschreckt mich immer wieder neu.

"Mrowisko" von den polnischen KLAN ist eine jener Scheiben, die man vom ersten bis zum letzten Ton an einem Stück durchhören kann, ohne das man fürchten müsste, die Spannung würde nachlassen. Die Musik steckt voller überraschender Wendungen und man entdeckt faszinierendes Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Instrumente. Diese Scheibe ist ein Glanzstück des Musizierens auf höchstem Niveau sowie eine Meisterleistung der Verschmelzung von scheinbar völlig gegensätzlichen Stilen und Möglichkeiten und so auch Spiegelbild einer der innovativsten Momente internationaler Rockmusik und nicht nur Polens. Wer sich auskennt und seine Hörgewohnheiten abseits eingängiger Charts erprobt hat, dem springen die Facetten von Santana, Genesis, Jethro Tull, Nice bis hin zu Niemen und den Spielarten von Folk, Jazz, Soul und Blues förmlich in die Ohren und er wird merken, dass nichts davon nur billige Kopie des Effekts wegen, sondern eingebettet in die reichhaltige Fundgrube der polnischen Folklore entstanden und gewachsen ist. Das macht auch die Faszination der Musik von "Mrowisko" aus. Wer bereit ist, diese Musik zu entdecken, wird, selbst noch vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen, seine Freude an ihr haben.
(Hartmut Helms)

VÖ: 1971; Label: Polskie Nagrania Muza (PL); Best.-Nr.: XL 0756; Titel: Sen (Ein Traum) · Kuszenie (Versuchung) · Nerwy Miast (Die Nerven von Städten) · Senne Wedrówki (Wandernde Träume) · Taniec Wariatki (Der Tanz verrückter Frauen) · Taniec Czterech (Tanz der vier Männer) · Na Przekór (Gegen alles) · Nasze Mysli (Unsere Gedanken) · Mrowisko (Ameisenhaufen) · Pejzaz Z Pustych Ram (Landschaft der leeren Rahmen) · Taniec Glodnego (Tanz des Hungrigen) · Epidemia Euforii (Euphorische Epidemie) · Sen (Ein Traum); Bemerkung: 1971 bei Polskie Nagrania Muza auf LP veröffentlicht. 1987 und 2008 nochmals auf Vinyl wiederveröffentlicht. 1991 bei Digiton erstmals auf CD veröffentlicht, 2005 bei Yesterday nochmals (Stand: 08.02.2014); Musiker: Marek Alaszewski (Gesang, Gitarre) · Roman Pawelski (Bass) · Maciej Gluszkiewicz (Orgel, Piano) · Andrzej Poniatowski (Schlagzeug); Produzentin: Krystyna Urbanska

   
   
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