grechuta korowodgr 20130626 1700946123Mir ist mal wieder nach Erinnern. Nicht an Episoden oder Ereignisse aus meinem Leben, sondern viel mehr an einen der bedeutendsten polnischen Künstler, der Rockmusik in unserem Nachbarland wesentlich geprägt hat. Immer öfter habe ich das Gefühl, dass wichtige Dinge, die einst das Leben hierzulande interessant und facettenreich gemacht haben, entweder einfach verwischt oder auch vergessen werden. Doch sie gehören zu unserer Lebenskultur, haben viele von uns mit ihrer Musik und Kunst geprägt und werden deshalb noch immer, wenn auch still, leise und heimlich, von vielen verehrt. Einer bin ich und deshalb möchte ich an eine der schönsten Platten erinnern, die ich mir damals gekauft habe.

Pop und Rock waren in Polen etwas früher da als bei uns, etwas wilder, abwechslungsreicher auch und außerdem sehr tief in der Kultur und Folklore des Landes verwurzelt. Rock aus Polen war originell und - was die wenigsten wissen werden - textlich mindestens ebenso pfiffig und scharf, wie später die Bands in der DDR auch. Einer von ihnen war MAREK GRECHUTA. Ursprünglich ein Student der Architektur, gründete er schon frühzeitig, zum Ende der 60er Jahre, gemeinsam mit anderen Kommilitonen das Kabarett ANAWA (etwa: vorwärts, voran), das sich in den Folgejahren zu seiner Begleitband entwickelte. Als Höhepunkt dieser Zusammenarbeit erscheint 1971 in Polen das Album "Korowod" (Prozession).

"Korowod" ist, musikalisch gesehen, eine faszinierende Mischung aus Folk, Klassik, Jazz und dem, was man als progressiv in der Rockmusik einstufte, elektronische Effekte inbegriffen, wie sie zum Beispiel in der Einführung "Widziec Wiecej" zu hören sind. Trotz dieser scheinbaren Überbelastung mit Stilen und Inspirationen, strahlt das Album von Beginn an eine ganz eigenwillige und stimmungsvolle Leichtigkeit aus. Die Schwierigkeit besteht sicher darin, dass man im ersten Moment nicht bereit ist, sich der Diktion der fremden polnischen Sprache zu öffnen. Da hatten es zum gleichen Zeitpunkt Bands aus Westeuropa deutlich leichter, obwohl deren Sprache mindestens ebenso viele nicht verstanden haben und bis heute auch nicht wirklich verstehen. Manchmal haben Vorurteile eine ungerechtfertigte Macht.

grechutafoto 20130626 1177561490Ungeachtet dessen, hatten ANAWA und MAREK GRECHUTA zu Beginn der 70er Jahre und in Folge des Albums "Korowod" (1971) eine große Anhängerschar in der DDR. Irgendwie haben wir damals gespürt, dass in diesem Nachbarland - wie in anderen auch - musikalisch eine Revolution im Gange war, zu deren herausragenden Vertretern neben NIEMEN, BREAKOUT oder SBB auch ANAWA gezählt werden muss. Uns faszinierte gerade die Vielfalt der Mittel und das Aufbrechen in Grenzbereiche, wie wir es von ELP, YES oder GENTLE GIANT auch kannten.
Richtig populär wurden GRECHUTA & ANAWA jedoch, nachdem sie im Rundfunk der DDR die Chance bekamen, einige ihrer Lieder in deutscher Sprache neu zu produzieren. Vor allem "Dni, Ktorych Nie Znamy" wurde als "Wichtig sind Tage, die unbekannt sind" ein Kultsong, ebenso wie "Swiencie Nasz" als "Unsere Welt" zu einer Hymne avancierte, in der die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die uns damals unbewusst beschäftigte, besungen wurde. Hier der eigene Versuch einer Deutung:

Unsere Welt - gebt uns viele gute Tage
Unsere Welt - lass uns schlechte Feuer löschen
Unsere Welt - gib' uns Freunde, die wir suchen
Unsere Welt - lass uns schwere Tore öffnen
Unsere Welt - lass uns viele Freunde finden

Beim Hören des Albums wird man bemerken, dass sich die Stücke von Mal zu Mal steigern, immer intensiver und stärker im Ausdruck werden und das allseits bekannte "Dni, Ktorych Nie Znamy" kommt gar als leichtfüßiges Lied mit eingängigem Chorus daher. Das war damals so herausragend und fast schon experimentell, dass es heute schon wieder klassisch und von daher zeitlos schön wirkt. Wenn man bedenkt, dass gerade dieser Song wochenlang einschlägige Wertungssendungen anführte, wird einem schmerzlich der Qualitätsverlust bis zu heutigen Zeiten deutlich vor Augen und Ohren geführt.

Das ganze Album wirkt heute auf mich wie eine längst vergangene Landschaft und ein Leben darin, das es so nicht mehr gibt: reich, vielgestaltig, zauberhaft, ausgelassen, suchend und natürlich ganz und gar unangepasst. Die Scheibe gipfelt letztlich in ihrem Titelsong "Korowod" auf der zweiten LP-Seite, einem länger ausgedehnten Werk, das all die einzigartigen Fragmente der ganzen Platte noch einmal komprimiert und sie spielen lässt. Nichts von alldem wirkt aufgesetzt oder gekünstelt. Alles fließt dynamisch ineinander und verschmilzt zu einem wunderbaren Ganzen aus Klang, Gesang und Sprache.

Aus heutiger Sicht muss man konstatieren, dass MAREK GRECHUTA mit seiner Band ANAWA der Zeit weit voraus war, als Visionäre in Wort und Musik bleibende Werke schuf, die selbst heute, vierzig Jahre später, noch immer erstaunlich frisch und komplex erklingen. Alles ist möglich und nichts wird dem kommerziellen Streben oder blanken Populismus der Charts untergeordnet. Damals umschreibt MAREK GRECHUTA seine Musik als "moderne Romantik", obwohl sie natürlich wesentlich mehr war und bis heute ist. Die LP "Korowod" kann man im Rückblick bedenkenlos neben die Produktionen von Pink Floyd, King Crimsen und der anderen Avantgardisten der beginnenden 70er Jahre stellen, ohne dass sie verblassen würde. Das wenigstens im Rückblick zu erkennen und als solches zu akzeptieren, haben Musiker aus Polen, wie MAREK GRECHUTA, der leider im Oktober 2006 verstarb, schon lange verdient. In ihrem Heimatland Polen werden sie, NIEMEN, NALEPA oder eben GRECHUTA, als nationale Helden verehrt und wir hier, die wir in der ehemaligen DDR ihre Musik gehört haben, sollten uns wenigstens in großer Ehre und Achtung ihrer und ihrer Musik erinnern. Wir sollten ihr Andenken und Werk ebenso bewahren, wie das unserer eigenen Helden. Irgendwie, so denke ich heute, gebietet das auch unsere Herkunft und die Erfahrungen, die wir damals gemacht haben.
(Hartmut Helms)

VÖ: 1971; Label: Polskie Nagrania Muza (PL); Titel: Widziec wiecej (Introdukja) · Kantata · Chodzmy · Swiecie nasz · Nowy radosny dzien · Dni, których nie znamy · Ocalic od zapomnienia · Korowód · Niebieski mlyn; Bemerkung: 2000 bei Pomaton/EMI erstmals auf CD wiederveröffentlicht, 2005 ein weiteres Mal. Bonustracks auf der CD-Veröffentlichung: Letnia przygoda · Intro II · Kantata · W chlodzie osiczyn w dymie traw · Nie chodz dziewczyno do miasta · Pomarancze i mandarynki · Piosenka · Korowód; Musiker: Marek Grechuta (vocals) · Jan Kanty Pawluskiewicz (piano) · Jacek Ostaszewski (cello, bass, flute) · Masrèk Jackowski (percussion) · Eugeniusz Makòwk (percussion) · Anna Wojtowicz (violin) · Zbiegniew Paleta (fiddle) · Tadeusz Kozcu (viola)