gamm01 20121118 1122780192Die Schallplattenabteilung der hiesigen Stadtbibliothek war für musikverrückte DDR-Kids ohne Geld und ohne Vitamin B das reinste Paradies! Riesige Regale (als Kind erscheint einem ja ohnehin alles viel größer als es eigentlich ist) voller Schallplatten, die man nicht nur einzeln entnehmen und in Ruhe betrachten konnte (was im Musik-Geschäft schon deshalb nicht möglich war, weil nach spätestens fünf Minuten ein bärbeißiger Verkäufer mißtrauisch fragte, wonach man denn suche und auf irgendeine magische Weise zu wissen schien, daß man keine Knete in der Tasche hatte), sondern die man nach Herzenslust und -laune auch massenweise mit nach Hause nehmen durfte! Sicher, man mußte sie natürlich irgendwann wieder abgeben, doch das war halb so schlimm - es warteten ja schon wieder neue, denn die Bibliotheken wurden stets vorzugsweise mit allen aktuellen Neuerscheinungen bestückt... Wir haben da Stunden verbracht! Stunden, in denen alles andere ausgeschaltet war und es keine Außenwelt mehr gab. Die Streifzüge durch die Plattenregale hatten immer auch etwas Abenteuerliches und Geheimnisvolles an sich, denn die Hüllen waren als Schutz vor Abnutzung rundherum abgeklebt, so daß an den Plattenrücken nie zu erkennen war, um welche Veröffentlichung es sich handelte. Wollte man also nichts verpassen, mußte man jedesmal ALLE durchsuchen. Das nahmen wir jedoch in diesem Fall gerne in Kauf, wenn wir uns auch sonst nie durch besonders viel Geduld auszeichneten.
Bei einem dieser "Jagdausflüge" (es muß so um 1980 herum gewesen sein), fiel uns ein Album auf, das sich auf sonderbare Weise von allen anderen unterschied. Die Hülle war doppelt so dick, mußte also zu einem Doppelalbum gehören. Das erwies sich als falsch, als wir die Platte aus dem Regal zogen. Eine Klapphülle für nur eine LP? Sowas hatten wir noch nie gesehen! Unser Interesse war geweckt. Das Cover zeigte eine Art gezeichnete Mondlandschaft in bunten Farben, durchzogen von blauen Blitzen. Auch das war neu und gefiel uns auf Anhieb. Rästelhaft blieb, um welchen Interpreten es sich hier handelte, denn nur der Name "Gammapolis" stand da zu lesen. Ansonsten war nur noch ein seltsames Zeichen aufgedruckt, mit dem wir damals nichts anfangen konnten, denn wir kannten keine griechischen Buchstaben.
Nach dem Aufklappen der Hülle ereilte uns ein weiteres AHA!-Erlebnis. Was für ein wunderschönes Gemälde (siehe unten)! Die Musiker in Aktion, alle doppelt und als Collage mit fließenden Übergängen angelegt. In dem Moment stand fest, daß diese Platte mitmuß! Was immer da drauf sein würde - wir wußten, es mußte uns einfach gefallen. Beim Studieren der Schrift kamen wir langsam dahinter, daß es sich um keine einheimische Band handeln konnte... Ein Blick auf die Platte selbst löste dann das Rätsel um ihren Namen: OMEGA, offensichtlich aus Ungarn, denn da stand auch "Made in Hungaria", was die Spannung nur noch erhöhte. Der Name war uns nicht unbekannt, es fiel uns jedoch schwer bzw. war unmöglich, die eher unspektakulären und wenig beeindruckenden - dazu noch deutschen - Titel des Omega-Ensembles, die uns auf diversen Samplern begegnet waren (z.B. "Sie ruft alle Tage herbei" oder "O Barbarella") mit diesem Cover in Einklang zu bringen, so daß wir durchaus annahmen, es müsse sich um zwei verschiedene Bands handeln. Jedenfalls konnten wir es kaum abwarten, diese Scheibe auf dem Plattenteller drehen zu lassen!

VÖ:
Label:  


Titel:

Line up:

 

1978
Artisjus / MEGA (H)
Bacillus Records / Bellaphon (D)

Start
Gammapolis I
Nyári Éjek Asszonya
(Lady Of The Summer Night)
Örültek Órája
(Rush Hour)
A Számüzött
(Return Of The Outcast)
Hajnal A Város Felett
(Dawn In The City)
Arcnélküli Ember
(The Man Without A Face)
Ezüst Esö
(Silver Rain)
Gammapolis II

László Benkö (keyb)
Ferenc Debreceni (dr)
János Kóbor (voc)
Tamás Mihály (bg)
György Molnár (git)

Und was war das dann für ein Erlebnis! Schon der erste Song, sinnigerweise "Start" betitelt, was sowohl den Beginn der Platte selbst, als auch den Aufbruch in ein fremdes Universum symbolisierte, versetzte uns auf magische Weise in eine Art Trance, entführte uns mit einer einfachen Melodie - lediglich instrumental variiert - in eine bis dato völlig unbekannte Klangwelt. Was für ein Sound! Das nahtlos anschließende "Gammapolis I" setzte die Reise logisch fort, wenn es auch jetzt irdischer zuging. Eine wunderschön arrangierte Ballade, kunstvoll ausbalanciert, mit leichtem aber unaufdringlichem Pathos vorgetragen und interpretiert durch eine einfühlsame Stimme, die es fertigbrachte, eine slawische Sprache butterweich klingen zu lassen. Die Krone des Ganzen bildete ein herrlich melodiöser Gitarren-Chorus. Mit "Nyári Éjek Asszonya (Lady Of The Summer Night)" folgte eine melancholische Pop-Nummer, die uns bereits aus dem Radio bekannt war und uns nicht weniger fesselte. Etwas flotter kamen die nächsten Lieder daher: "Örültek Órája (Rush Hour)" mehr am Hardrock orientiert und "A Számüzött (Return Of The Outcast)" locker-flockig poprockig. Diese erste Plattenseite hatte unsere Musikwelt derartig durcheinandergewirbelt, daß wir die Scheibe NICHT wendeten, sondern tagelang immer wieder von vorn durchlaufen ließen. Zum ersten Abgabetermin hatten wir noch keinen einzigen Ton der B-Seite gehört! Unser Besuch in der Bibliothek war dann ein kurzer, wir gaben alle anderen Schallplatten zurück, nahmen keine neuen mit nach Hause, sondern ließen nur diese eine verlängern.
Es mag ein bißchen Angst gewesen sein, daß Seite 2 mit Seite 1 nicht würde mithalten können, die uns davon abhielt, uns endlich den Rest des Albums anzuhören, doch schließlich, als der zweite Abgabetermin näher rückte, taten wir es dann doch und wurden gleich wieder mit einem "Paukenschlag" konfrontiert! "Hajnal A Város Felett (Dawn In The City)" begann wieder ganz leise und allmählich entfaltete sich ein interessantes musikalisches Thema, das sich langsam steigerte und in immer neuen instrumentalen Variationen daherkam. Es war so ein Lied, bei dem man sich wünschte, es würde nie enden. So etwas zu arrangieren grenzt an Zauberei und ist nur wenigen Künstlern vorbehalten. Fast abrupt wirkte der Wechsel zu "Arcnélküli Ember (The Man Without A Face)", einem spärlich instrumentierten Sing-Sang, bei dem die Einzelstimmen-Vorgabe stets von einem Chor wiederholt wurde. Da man nichts verstehen konnte, wirkte die Nummer anfangs etwas sperrig und war damit die einzige, die tatsächlich an das erinnerte, was wir zuvor vom Omega-Ensemble kannten. Nichtsdestotrotz schlossen wir den Gesichtslosen nur wenig später auch in unser Herz. Das folgende "Ezüst Esö (Silver Rain)" fand den Weg dahin wieder leichter, handelte es sich doch um eine gefühlvolle und einschmeichelnde Art-Pop-Ballade, wie wir sie später vor allem von Barclay James Harvest zu lieben lernten. Den Abschluß bildete schließlich "Gammapolis II", das nochmal alles aufbot, was den vorangegangenen "Rest" des Album ausgemacht hatte. Wie zuvor die A-Seite lief nun tagelang die B-Seite...
Wir haben noch manchen Abgabetermin "verpaßt", die Scheibe immer weiter verlängert, bis nach etwa einem halben Jahr (!) die Bibliothekarin darauf bestand, daß die Schallplatte nun endlich auch anderen wieder zugänglich sein müsse. Noch nie war uns ein Abschied so schwer gefallen! Es kam einem kleinen Tod gleich, diesen Kameraden, diesen Freund, diesen Teil von sich selbst unter der Theke verschwinden zu sehen und sich vorzustellen, ein anderer würde ihn bald hinfortnehmen. Wie sollte man ohne "Gammapolis" weiterleben (Über ein Aufnahmegerät verfügten wir seinerzeit nicht.)? Es war wirklich eine Katastrophe. Wer als Kind jemals etwas verloren hat, was ihm lieb und teuer war, wird nachvollziehen können, wie es uns damals ging. Irgendwie leer und uninteressant erschien uns das einst so aufregende Plattenregal, das wir nun ziemlich lustlos nach einer Alternative durchsuchten. Bis - ja bis wir plötzlich auf einen seltsam dicken Plattenrücken stießen und mit wild klopfendem Herzen tatsächlich ein zweites Exemplar des geliebten Albums herauszogen! Schlagartig war die Welt wieder rosarot, die Zukunft gesichert und unser Weg nach Gammapolis offen...

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Jahre vergingen, in denen wir immer neue Musik entdeckten, in denen sich unser Geschmack erweiterte und veränderte, in denen wir älter wurden, andere Interessen entwickelten usw. "Gammapolis" war immer dabei, wenn auch bald nicht mehr materiell, sondern eingebrannt in der Seele. Es kam auch der erste eigene Kassettenrecorder und damit die Möglichkeit, Musik zu archivieren und unabhängig darüber verfügen zu können. Das war eine Freude! Natürlich sollte die OMEGA-Platte nun auch auf Kassette verewigt werden, doch als wir sie uns leihen wollten, war sie nicht mehr da. Beide Exemplare waren einfach verschwunden und keiner konnte darüber Auskunft geben, wohin. Lediglich ein Live-Doppelalbum von OMEGA war verfügbar ("Elö OMEGA Kisstadion '79"), auf dem zwar einige Songs von "Gammapolis" drauf waren, die aber durch den geradezu scheußlichen Sound nicht als Alternative herhalten konnten. Diesmal hatten wir unseren Kindheits-Gefährten endgültig verloren. Woher hätte man die Platte auch bekommen sollen? Ungarn war weit weg. Was blieb, war eine prägende Erinnerung und die Gewißheit, daß wir für den Rest unseres Lebens etwas vermissen würden.
Wieder vergingen Jahre, wir wurden erwachsen, die Welt veränderte sich und auch unser Leben. Es kam die Wende und damit taten sich völlig neue Möglichkeiten auf, unser Hobby auszuleben. Stereoanlage, Plattensammlung - alles wuchs zusehends. Konzerte folgten und wurden zum festen Bestandteil unseres Seins, die CD hielt Einzug (der wir uns lange verweigert hatten). So ziemlich alle Wünsche, die wir einst hegten, konnten wir uns nun so nach und nach erfüllen. Bis auf einen: "Gammapolis" vermißten wir noch immer sehr und es erschien uns unmöglicher denn je, diese Lücke irgendwann schließen zu können. Und meistens dann, wenn einem etwas am unmöglichsten scheint und man fast gar nicht mehr dran denkt, wendet sich das Blatt.

Es war reiner Zufall, der uns einen Katalog einer kleinen gamm02 20121118 2039520038Mailorder-Firma in die Hände spielte. Ebenso war es Zufall, daß wir ihn durchblätterten, statt ihn zu entsorgen, denn eigentlich hatten wir unsere Stamm-Läden. Wie groß war die Überraschung, als wir unter dem Buchstaben O tatsächlich "Gammapolis" entdeckten! Natürlich wurden wir umgehend Kunden des Unternehmens, die Bestellung war in Rekordgeschwindigkeit aufgegeben und das Ausmaß unserer Ungeduld beim Warten ist sicher nicht schwer vorstellbar. Schließlich war es soweit: Mit zitternden Händen öffneten wir das Päckchen und rissen förmlich die CD heraus! Doch wir erblickten etwas anderes, als wir erwartet hatten. Ein völlig anderes Cover, als das in unserer Erinnerung, kam zum Vorschein. Und nicht nur das: Ein Blick auf die Rückseite der Hülle enthüllte eine Tracklist auf Englisch und in einer seltsamen Reihenfolge, denn die Stücke "Start" und "Gammapolis I" hatten ihren Platz mit "Dawn In The City" getauscht. Diese Abfolge war doch nicht logisch! Ein Blick auf's Label brachte schließlich Gewißheit: Wir hatten nicht das Original, sondern eine westdeutsche Lizenzausgabe gekauft (von deren Existenz wir bis dato gar nichts gewußt hatten). Das enttäuschte uns einerseits schon etwas, doch andererseits gab das der Sache auch einen völlig neuen Aspekt. Es konnte ja nicht uninteressant sein, die tollen Songs in englischer Sprache zu hören. Das war jedenfalls besser als gar nicht, so wie es in den letzten Jahren gewesen war. Und so kam es dann auch. Mehr noch: Als die so vertrauten Töne nach so langer Zeit zum ersten mal wieder aus den Boxen erklangen, schlugen die Gefühle Purzelbäume, gingen die Emotionen mit uns Gassi, krochen uns megafette Heiß-Kalt-Schauer über den Rücken und liefen schließlich auch die Tränen in Strömen. Ach Leute, war das ein Moment! Wir wünschten, man könnte sowas für die Ewigkeit konservieren und immer wieder durchleben.
Doch das war noch nicht das Ende der Geschichte. Das kam erst, als wir in einem An- und Verkauf die ungarische Original-CD entdeckten und natürlich sofort verhafteten. Damit schloß sich endgültig der Kreis und ein ganz persönlicher Zyklus unseres Daseins fand seine Vollendung. Das ist nun auch schon wieder über zehn Jahre her, doch noch heute schlagen die Emotionen hohe Wellen, wenn eine der beiden CDs in den Player wandert. Und das wird wohl auch immer so bleiben, wenn auch die ganz großen Momente, die wir mit dieser Platte verbinden, weiter und weiter in die Vergangenheit wandern je weiter die Zeit voranschreitet. Für uns bleibt "Gammapolis" eines der besten Rock-Werke aller Zeiten und einer der prägendsten Einflüsse in unserem Leben. Und nicht zuletzt ein Beispiel dafür, über welche Macht Musik zuweilen verfügen kann. (kf)

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