Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich zum ersten Mal diese Schallplatte gehört habe. Es gab einen Sampler von der Firma "Levi's" (genau die, die auch die Jeans machen), anläßlich eines Festivals bei dem neben Spliff noch Extrabreit, Prima Klima und Interzone aufgetreten sind. Von jeder dieser Bands waren dann zwei bis drei Titel auf der Platte. Ich hatte sofort einen Narren an den Sachen von Spliff und Interzone gefressen. Ein (wesentlich älterer) Freund aus der damaligen Zeit bekam mit, dass ich auf die Musik der Bands total abfuhr. Er hatte zu diesem Zeitpunkt einen Job in der hiesigen Diskothek (als Student mußte man sich sein Einkommen eben etwas aufbessern), und dadurch Zugang zu allen aktuellen und bis dahin erschienenen Platten. Irgendeinen Samstag - er sollte mir bei meinen Problemen mit der englischen Sprache helfen - brachte er eine Tüte voller Platten mit. Mit dabei die "Spliff Radio Show" und "85555". Wen interessierte da denn noch das "Englisch-Problem"? Die schlicht aufgemachte Spliff-Platte, die nach der Bestellnummer benannt wurde, landete sofort auf dem Plattenteller. Und es ging gleich mit der Scheibe los, die die Gruppe für mich so faszinierend machte: "Deja Vu". Den Song kannte ich noch von meinem Levi's-Sampler, aber schon die nächsten beiden Songs "Heut' Nacht" und "Notausgang" waren mir neu. An diesem Wochenende dudelte "85555" bei mir rauf und runter und ließ den anderen Platten, die mir Markus (so hieß der Kumpel) mitgebracht hatte, keine Chance. Songs wie "Computer sind doof", "Jerusalem", "Damals" und "Kill" hatten einen dermaßen großen Reiz auf mich, dass alles andere erstmal nebensächlich war. Man muss dazu sagen, dass die Platte inmitten der Hochzeit von NDW auf den Markt kam. Man wurde mit minimalistischem Zeug á la "Da Da Da" oder "Herbergsvater" beschallt, große Arrangements oder Inhalt waren eher selten. Nicht dass die anderen Musiker schlechte Sachen abgeliefert hätten (speziell "Herbergsvater" von Joachim Witt zählte zu meinen Favoriten), aber das Material von Spliff stellte an den Hörer doch gleich ganz andere Anforderungen: Man mußte mitdenken, sich reinhören und Botschaften entschlüsseln. Nicht zuletzt deshalb ist der Text von "Deja Vu" auch in einem Schulbuch für das Unterrichtsfach Musik zum Thema "Lyrik in der Popmusik" abgedruckt worden. Die Kunst, die deutsche Sprache so als Instrument zu benutzen, sie so zu formen, dass daraus Kunst wird, hat mich schon bei vielen Titeln aus der damaligen DDR (also beim Ostrock) begeistert.

VÖ:
Label:
1982 (in Deutsch & Englisch)
CBS
Titel:
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Deja Vu
Heut' Nacht
Notausgang
Carbonara
Computer sind doof
Kill!
Duett komplett
Jerusalem
Damals
Line-up:
Bernhard Potschka
(Gitarre)
Manfred Praeker
(Bass, Gesang)
Herwig Mitteregger
(Schlagzeug, Gesang)
Reinhold Heil
(Keyboards, Gesang)

Nun gab es das auch bei uns in der BRD, und nicht nur im Bereich Liedermacher sondern auch in der populären Musik. Die Herren Praeker (Bass), Mitteregger (Schlagzeug, Gesang), Potschka (Gitarre) und Heil (Tastatur, Gesang) hatten mit "85555" etwas abgeliefert, das sich auch später als eines der Vorzeige-Alben der 80er entwickeln sollte. Die düstere Vision "Deja Vu", das ulkige Sprachenmischmasch "Carbonara" (noch immer ein Gassenhauer) oder das depressiv-wirkende Abschlusslied der Platte, "Damals"... ein Kunstwerk reiht sich an das nächste.
Spliff hat 1982 mit "85555" etwas geschafft, das heute nahezu unmöglich scheint: Das Lebensgefühl der Jugend in anspruchsvolle Textgewänder zu kleiden und mit mitreißender Musik zu verbinden. Wo heute eine Horde von schlecht gekleideten Baumschülern mit Gossen- und Fäkalsprache im "Hip Hop-Style" zu beeindrucken versucht (und damit dummerweise auch noch Plattenverträge bekommt), haben die vier Herren aus Berlin mit erstklassiger Qualität in Musik und Text, sowie mit innovativen Arrangements überzeugt. Wo sind diese Bands, diese Komponisten und Textautoren heute? Es gibt sie zwar noch, sie bekommen aber kaum noch Chancen (die Übersicht unter "Neuheiten" ist voll von solchen Beispielen).
Dem Leser sei abschließend noch gesagt, dass meine Note in Englisch am Ende doch noch mehr als zufriedenstellend ausgefallen ist, und ich mich heute prima in dieser Sprache verständigen kann. Ich muss also keine Reue dafür zeigen, dass ich Spliff meinen Hausaufgaben an besagtem Samstag vorgezogen habe.

Wichtige Randnotiz: Die Platte erschien damals übrigens in Deutsch und Englisch.

(Christian Reder)

 


   
   
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