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Ein Bericht mit Fotos von Patti Heidrich und Ralf Parkner



Als Christian Reder anfragte, ob ich über das Konzert am 9. Januar 2020, auf den Tag genau am 70. Geburtstag von Rio Reiser, einen kleinen Bericht schreiben könnte, wollte ich spontan absagen, verbrachte ich doch eine lange Zeit backstage und auch auf der Bühne. Auf der anderen Seite: Es würde so auch niemand erfahren, dass wir Steinlandpiraten backstage saßen, lauschten und auch applaudierten, obwohl dies dort, hinter der Bühne, gar keiner sehen oder hören konnte, so ganz spontan aus Begeisterung und Ergriffensein. Mit Unterstützung von Ralf Parkner (Frankfurt an der Oder), der am 10. Januar 2020 bei dem Rio-Geburtstagskonzert in der Kulturfabrik Fürstenwalde im Publikum saß, möchte ich einige Eindrücke schildern, nehmt mir aber bitte die Unvollständigkeit nicht übel.

SOLO FÜR ZWEI, Jan Preuß und Steffen Rose, sind schon einige Zeit mit ihrem Rio-Reiser-Programm unterwegs. Ende 2019 hatte ich sie als Duo erlebt und war sehr angetan, dass alle meine Ängste, man könne als Duo unmöglich auch (genau die) Scherbensongs spielen, vom Winde verweht wurden. Das muss man sich als Duo erstmal trauen und dann auch noch erfolgreich umsetzen. Ein Duo hat nicht die Arrangement-Möglichkeiten wie eine Band - und muss sich als Coverformation doch am Original messen lassen (können). Anlässlich der drei Geburtstagskonzerte, zwei in Berlin und eines in Fürstenwalde, wuchsen sie zum Quartett und spielten mit ganz besonderen Noten:
seine ganz eigene Stimmung brachte der aus Kambodscha stammende Musiker Sonny Thet mit seinem Cello ein. Sonny Thet kam Mitte der 70-er Jahre zum Studium in die DDR und gründete dort die Gruppe BAYON. In den 90er Jahren begleitete er auch schon Rio Reiser auf seinem Cello, wie z.B. am 22. Mai 1996 im Frankfurter (an der Oder) EASY.
Auf dem Cajon gab Funky K. Götzner den Rhythmus vor, das "K." steht für Klaus und "Funky" wurde und wird er genannt, nachdem er in einer Zeitungsannonce Anschluss an eine Funk-Band gesucht hatte und dabei die Scherben fand. Seit 1974 trommelte er bei TON STEINE SCHERBEN. Und er war auch in der GEHEIMEn GESELLSCHAFT - der Band, in der Jan Preuß sang und Steffen Rose schon an den Tasten saß - bis zum letzten Konzert 2017 für den Rhythmus zuständig.
Wir Steinlandpiraten hatten uns frech selbst eingeladen und Gott sei Dank hat uns Jan keinen Korb gegeben. Ok, wir hätten ein Nein überlebt, aber schöner wär es schon, wenn wir dabei sein könnten. Und jetzt, im Nachhinein und mit dem Gefühl dieser drei musik- und liebestollen Tage, sind wir uns nicht ganz sicher, ob wir ein Nein überlebt hätten. Okay, wir hätten ja dann nicht gewusst, was wir jetzt wissen - und auch nicht diesen Energieüberschuss, der gute Mitmenschen-Begegnungen für Musiker und im Grunde alle Menschen nach sich ziehen kann (und ja, wenn alle weg sind, fällt mensch trotzdem erstmal in ein schwarzes Loch…).

SOLO FÜR ZWEI, Funky K. Götzner und Sonny Thet gaben zum Besten: "Übers Meer", "Wilde Walzer", "Nur Dich", "Mitten in der Nacht", "Lass uns 'n Wunder sein", "Ich werde Dich lieben", "Für immer und Dich", "Hey Hallo", "Shit Hit", "Wilde Rosen", "Freitag der 13.", "Der Traum ist aus", "Jetzt schlägts 13", "Der Turm stürzt ein", "Jenseits von Eden", "S.N.A.F.T.", "Rauchhaussong", "Keine Mache für Niemand" und "KvD". Die Steinlandpiraten steuerten "Land in Sicht" bei, gemeinsam wurde "Halt Dich an Deiner Liebe fest" zelebriert. Jan Preuß hat es super gut verstanden, zwischen den Songs Anekdoten aus dem Leben der Scherben und von Rio einzustreuen.

Das Konzert am Donnerstag in der WABE in Berlin war besonders, aber anders besonders als das Konzert am Freitag in Fürstenwalde in der Kulturfabrik. An beiden Abenden schwang jedoch die gleiche Stimmung vom ersten Ton an im Publikum: schön, dass wir alle hier gemeinsam Rios Lieder spielen oder hören dürfen, dass wir uns erinnern, dass wir in unserem Erinnern an Rio Reiser nicht alleine sind, dass wir noch einstehen wollen für ein Paradies, auch wenn der Traum aus ist. In Berlin (WABE) ging es etwas anarchistischer zu, dort wurden mit Zwischenrufen auch Songs gewünscht. Fürstenwalde war dankbar für jedes Lied. An beiden Abenden konnte ich fühlen, wie mit dem ersten Ton von der Bühne Filme in den Köpfen losgingen, Erinnerungen an erste Lieben und Liebeskummer, an verlorene Träume, an ursprüngliche Lebenspläne, die mensch verloren hat im Alltag und Kampf um Job, Miete und Brot ... und das Ausmotten von alten Idealen ... und Taschentücher vorgekramt wurden. Es fanden sich in der WABE in Berlin und in der Kulturfabrik Kufa in Fürstenwalde alle diejenigen ein, die eine Gemeinschaft suchen, weil man zu zweit oder dritt oder noch mehr einfach auch mehr erreichen kann. Obwohl der Tod von Rio Reiser vor 24 Jahren omnipräsent war zu seinen Geburtstagskonzerten, so spendeten die beiden Konzerte dennoch Trost - und Hoffnung. Besonders hat uns Musiker auch erfreut, dass Anja Hawlitzki (GEHEIME GESELLSCHAFT) uns einen Besuch abgestattet hat.

Am 11. Januar 2020 gab das Preuß-Rose-Thet-Götzner-Quartett ein besonderes Konzert in der Kapelle des Friedhofs St. Matthäus. Dort auf dem Friedhof ist Rio Reiser nach seiner Umbettung seit 2011 begraben. Sein erstes Grab wurde in Fresenhagen ausgehoben; als der Hof der Scherben verkauft werden musste, war die Wahl für die nächste Ruhestätte auf Berlin als Geburtsstadt gefallen. Hier liegt Rio Reiser jetzt auf einem bunten, lebendigen Friedhof, neben den Märchensammlern Gebrüder Grimm und Rainer von der Marwitz, der für TON STEINE SCHERBEN den Song "Morgenlicht" schrieb und die Berliner Schwulenkneipe "Anderes Ufer" leitete.

Die Kapelle war übervoll, die Tür musste offengelassen werden, es waren auch viele Kinder zu Besuch. Gerhard Moses Heß moderierte das Konzert, das von Lesungen mit Frank Leo Schröter (Regisseur des Musicals "Mein Name ist Mensch") und Philip Butz (Darsteller von Rio in diesem Musical) aus Rio-Texten zu Themen wie zum Beispiel Eifersucht, Kuss für die Ewigkeit und Fragen nach Gott flankiert wurde. Heß stellte in seiner kleinen Konzert-Laudatio in den Mittelpunkt, dass im September der Heinrich-Platz in Rio-Reiser-Platz umbenannt und auch der RIO REISER SONGPREIS in diesem Jahr wieder ausgelobt wird. Klaus Lederer, Berliner Senator für Kultur und Europa, hielt eine kurze herzliche Ansprache und berichtete vom "Rio Reiser Sonderstipendium", das in diesem Jahr anlässlich des 70. Geburtstages erstmals vom Musicboard Berlin, der Fördereinrichtung für die Berliner Popmusikszene, vergeben wird.d 20200115 2058375957 Die mit 8.000 Euro dotierte Auszeichnung soll an politisch engagierte Berliner Musikerinnen und Musiker oder Bands vergeben werden, die mit ihrer Musik und durch ihre Rolle als Künstler zu einer offenen, diversen und toleranten Gesellschaft beitragen (Infos HIER).

Besonders hat mir an allen drei Konzerten gefallen, dass Rio Reiser neben seinen Liedern auch mit seinem Hut, Anziehsachen und Fotos greifbar nah Bestandteil der Konzerte wurde. Auch Rios Gitarre war mit von der Partie. Diese Dinge aus dem Nachlass von Rio hatte Gert Möbius, Rios Bruder und Gründer des Rio Reiser Archivs, zur Verfügung gestellt. Und noch ein kleines Nähkästchen am Rande: beim Soundcheck in Fürstenwalde fiel eine Gitarre um, ordentlich mit Krach und Rumms. Kurz stand die Zeit still und alle hielten die Luft an, bis sich die Gewissheit, dass es nicht Rios Gitarre war, ins Gehirn bohren konnte. Ralf Parkner erzählte mir in Fürstenwalde noch folgende Begebenheit: 1996 gastierte Rio Reiser (mit Sonny Thet) in Frankfurt an der Oder im (inzwischen abgebrannten) EASY, die Eintrittskarte vom 22. Mai 1996 hat sich Ralf von Ralph signieren lassen. Ralph wurde vom Publikum gedrängt zu Zugaben. Knieend, die Arme bittend erhoben, rief er aus "Bitte, lasst mich leben!"

P.S.: Wer seine Musikbibliothek ergänzen möchte, dem sei die "Blackbox Rio Reiser" sehr ans Herz gelegt. Auf 16 CDs versammelt die "Blackbox" frühe Musik von Rio Reiser (mehr als 360 Songs, viele davon bisher unveröffentlicht). "Verzapft" hat diese Schatzkiste Lutz Kerschowski, langjähriger Gitarrist und Weggefährte von Rio Reiser (siehe HIER).




 
Fotostrecke:
 
 
Berlin | WABE | 9. Januar 2020
 

 

 

Fürstenwalde | Kulturfabrik | 10. Januar 2020

 

 

Berlin | Friedhof St. Matthäus | 11. Januar 2020

 

 

 

 

   
   
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