000 20140702 1329322300

Berlin - 26. Juni 2014
Ein Konzertbericht von Thorsten Murr, mit freundlicher Unterstützung von
Susann Paape. Fotos Bühne: Thorsten Murr; Fotos Auditorium: Susann Paape




PEARL JAM, auf Europa-Tour mit aktuellem Album "Lightning Bolt", hatten sich wieder einmal in der Berliner Wuhlheide angemeldet - zu ihrem einzigen Deutschlandkonzert. Und so war die Veranstaltung trotz gleichzeitigem WM-Gruppenspiel Deutschland gegen die USA bereits seit einem halben Jahr so gut wie ausverkauft. Ein paar Karten gab es aber doch noch und zudem hatte ich das Glück, dem Ereignis in charmanter und sachkundiger Begleitung beizuwohnen, denn S. hatte mir schon mehrfach ihre Eindrücke und Erinnerungen vom Anfang der Neunziger vermittelt, als der Grungerock, made in Seattle, mit Bands wie NIRVANA und SOUNDGARDEN auf seinem Siegeszug einen ersten Höhepunkt erreicht hatte.a 20140702 1433460874 Vor rund 22 Jahren traten PEARL JAM im vergleichsweise kuscheligen Berliner LOFT auf und waren sehr nah am Publikum, das zahlenmäßig noch sehr überschaubar war und überwiegend aus Insidern bestand. Der globale Erfolg, den diese Band in den Jahren darauf haben sollte, war bestenfalls zu erahnen. Damals aber schon spielten sie sich die Seele aus dem Leib, und S. stand schon damals in der ersten Reihe, wie auch bei etlichen weiteren Konzerten, die in den zwei Dekaden danach folgten und seit der Jahrtausendwende mit einiger Regelmäßigkeit alle drei bis vier Jahre in Berlin stattfinden. Eddie Vedder hatte schon mehrfach öffentlich erklärt, dass die Bühne in der Wuhlheide für ihn wie ein zweites Wohnzimmer sei.

Ein fröhliches Happening kündigt sich an
An diesem Donnerstag nun strömt das Publikum stressfrei in die Arena der Kindl-Bühne, wie es auch geduldig und freundlich auf seine Band wartet. Da es kein Vorprogramm gibt, unterhalten sich die rund 17.000 Fans selbst - mit fröhlichen Sprechchören und mehrfachen, wirklich beeindruckenden Laolas. Es wird schon deutlich, dass dieser Abend eher ein Happening als ein konventionelles Rockkonzert werden könnte. Vor Beginn des Gigs macht noch die Nachricht die Runde, dass die Entscheidung im Fußball inzwischen zugunsten Deutschlands ausgefallen ist. Das scheint aber kaum jemanden besonders zu jucken.

Lightning Bolt - but three Songs, no Flash!
Heute habe ich eine Fotoerlaubnis und darf mit einer Handvoll weiterer Fotografen in den Graben. Drei Songs, ohne Blitz - das Übliche. Schade, denn am Anfang sind die meisten Konzerte alles andere als visuell aufregend. Der Auftritt ist für 20:00 Uhr annonciert, und ohne nennenswerte Verspätung,b 20140702 1267252207 aber auch ohne große Show oder Feuerwerk kommt die Band ziemlich entspannt auf die Bühne. Die Stimmung muss nicht erst angestachelt werden, das Erscheinen von Bandchef und Sänger Eddie Vedder, den beiden Gitarristen Stone Gossard und Mike McCready, Bassist Jeff Ament, Drummer Matt Cameron und dem seit über zehn Jahren ständigen Begleit-Keyboarder Boom Gaspar lässt das Publikum johlen.

"Pendulum" vom aktuellen Album "Lightning Bold" ist der Opener, gefolgt von "Low Light" und "Nothingman", die beide aus der Mitte der Neunziger stammen. Der Lichtblitz, der das Logo des aktuellen Albums und die Tour-T-Shirts ziert, bleibt zunächst aus. Unspektakulär, lässig, fast schon verhalten, beginnt die Band das Programm, das sich über drei Stunden erstrecken und nicht weniger als 36 Songs aus so ziemlich allen Schaffensperioden beinhalten wird. Aber bereits in den ersten vier, fünf Stücken deutet sich an, dass die Mannen um Eddie Vedder auf dem besten Weg sind, bald ihre Betriebstemperatur zu erreichen und man sich noch auf einiges freuen kann. Denn es wird schneller, rockiger und wilder.

Von TEN bis Nummer zehn
Die Setlist, in der außer von "Backspacer", 2009, und von "Riot Act", 2002, jedes Studioalbum vertreten ist, bringt immerhin fünf Songs vom 2013er "Lightning Bolt". Ebenso viele Stücke sind vom allerersten Album zu hören. Das Publikum beweist sich als sehr stoff- und textsicher. Kaum ist ein Unterschied auszumachen, ob es sich um Songs älterer Baujahre oder um neues Material handelt. Ich finde das sehr bemerkenswert, denn bei diesem umfangreichen Repertoire - das erste Album hieß übrigens "Ten", während die aktuelle Scheibe nun tatsächlich die zehnte Studioproduktion ist - und der von Tour zu Tour und von Konzert zu Konzert immer wieder beliebig wechselnden Songauswahl muss man als Fan schon ziemlich fit sein, um alles mitsingen zu können - und als Band selbstverständlich auch.

Langstreckenlauf mit etlichen Sprints
Für die langjährigen Fans mag es vielleicht normal sein, für mich ist es neu: PEARL JAM liefern ein irgendwie unaufgeregtes Konzert, das im Rund der Wuhlheiden-Bühne trotzdem eine gewaltige Dynamik entwickelt.c 20140702 1060885579 Es ist wie ein langer Geländelauf, mit schweren Bergauf- und leichten Bergabstrecken und sehr, sehr vielen Sprinteinlagen. Schnelle, punkrockartige Gitarrennummern wechseln mit schier endlosen Grunge-Orgien à la "Crazy Horse" und werden wiederum versetzt mit den eher sinnlichen und manchmal auch düsteren und grüblerischen Balladen. Die Band mit dem charismatischen Sänger und Songschreiber Eddie Vedder an der Spitze scheint sich in all ihren Spielarten gleichermaßen zuhause zu fühlen. Ebenso das Publikum. Jeder Song wird gebührend bejubelt, Tücher, ein Basketball und andere Dinge werden auf die Bühne geworfen, und bei den wilderen Stücken tobt der ganze Innenraum wie eine köchelnde Suppe. Immer wieder lassen sich ausgelassene Fans hochheben und surfen über die Köpfe der Massen, getragen von hunderten Armen, in Richtung Bühne. Die Security ist sehr kooperativ, fast schon wie freundliche Aufsichtslehrer während einer quirligen Hofpause. Sie nimmt die Reisenden am Bühnengraben in Empfang und bringt sie völlig entspannt zurück zu einem der Zugänge zum Zuschauerareal. So geht es also auch!

Alle drei Schritte zurück!
Zur Bandgeschichte gehört leider auch der Auftritt in Roskilde vor 14 Jahren, bei dem die Stimmung im Publikum überschwappte, zu einer Panik eskalierte und im Gedränge vor der Bühne neun Menschen zu Tode kamen.
Setlist:

• Pendulum
• Low Light
• Nothingman
• In My Tree
• Go
• Why Go
• Do the Evolution
• Corduroy
• Lightning Bolt
• Mind Your Manners
• Gods' Dice
• Hold On
• Given to Fly
• You Are
• Who You Are
• Even Flow
• Let Stone Sing/Let It Go
• Sirens
• Jeremy
• Immortality
• Eruption
• Lukin
• Rearviewmirror
--- Zugaben bzw. zweiter Set: ---
• Sleight of Hand
• Sleeping By Myself
• All Those Yesterdays
• Crazy Mary
• Comatose
• Blood
• Porch
--- Zugaben bzw. dritter Set: ---
• Bee Girl
• I Believe in Miracle
• Alive
• Rockin' in the Free World
• Yellow Ledbetter
Deshalb ist nur mehr als verständlich, dass immer, wenn es im Innenraumkessel zu wild hergeht, Vedder eine Pause einlegt, beruhigend zu den Massen spricht und alle auffordert, auf Kommando gleichzeitig drei Schritte zurückzutreten. Vom Rang aus ist das ein verblüffendes Schauspiel - und mithin ein weiterer Beweis für die freundliche Loyalität, die die Fans mit dieser Band verbindet.

Nach etwa anderthalb Stunden animiert Eddie Vedder mit einem Sprechgesang "Let Stone Sing!" das Publikum zum Mitsingen, um den Gitarristen Stone Gossard als Sänger anzukündigen. Irgendetwas singt der auch, aber es ist auch ziemlich durcheinander alles, als Vedder dann den Song "Let It Go" aus dem Disney-Film FROZEN zu intonieren beginnt. So richtig verstehe ich nicht, was es damit auf sich haben soll. Vielleicht ist es nur ein Spaß zwischendurch. Sollte es jemand besser wissen, möge er es bitte gern mitteilen. Weitere Cover-Nummern im Programm sind heute "Eruption" von VAN HALEN sowie, bereits im Zugabenteil, "Crazy Mary" von VICTORIA WILIAMS und das wunderbare rockende "I Believe In Miracles" von den RAMONES.

Wie ein Familientreffen
Was mich am Rande immer wieder beeindruckt, ist das nach wie vor freundliche Verhalten der Security, die Becher mit Wasser an die ersten Reihen verteilt, Plektren und andere Souvenirs der Band von der Bühne an einzelne Fans - oder umgedreht, von den Fans zur Bühne - weitergibt und auf Wunsch Eddie Vedders auch den Namen eines kleinen Mädchens in Erfahrung bringt, das der Sänger unter den Massen ausgemacht hat, und das er namentlich begrüßt, bevor er "Bee Girl" anstimmt, erschienen 2003 auf "Lost Dogs", einer Sammlung von Material, das es nicht auf eins der regulären Alben geschafft hatte. Sehr schöne Szenen und sehr schöne Gesten. Ebenso schön ist, dass Vedder in den Sicherheits- und Fotograben hinabsteigt, um die lange Reihe Hände derjenigen, die ganz vorne stehen, abzuklatschen, bevor er eine ganze Weile später, im langgezogenen Finale, eine akrobatische Klettertour in der Bühnenkonstruktion absolviert.

Auf der Zielgeraden des rund dreistündigen Marathons geben PEARL JAM noch einmal richtig Gas und versetzen dem Publikum den letzten Kick. So auch mit dem Mega-Hit "Alive" von 1991 und dem krachenden Übersong "Rockin' In A Free World" von Holzfällerhemd-Kumpel NEIL YOUNG, mit dem man Mitte der neunziger Jahre eine Platte aufgenommen hatte und auch auf Tour war. Auf Wunsch der Plattenfirmen allerdings nicht offiziell und "inkognito", obwohl jedermann damals wusste, um wen es sich bei den Grunge-Brüdern des Altmeisters handelt, die sogar den Namen der Schlagzeugfirma PEARL von der Bassdrum des damaligen Trommlers Jack Irons entfernen mussten. So zumindest wurde es seinerzeit erzählt.

Nach einem sehr langen und zwei kürzeren Sets, die man schwerlich als herkömmliche Zugaben bezeichnen kann, ist nach rund drei Stunden und dem 1991er Stück "Yellow Ledbetter" Schluss. Immer noch sehr entspannt und glücklich begeben sich die Tausenden, wie von einem großen Familientreffen kommend, auf den Heimweg.



Über diesen Bericht könnt ihr in unserem Forum diskutieren.




 

Fotostrecke:

 
 
 
 




   
   
© Deutsche Mugge (2007 - 2023)

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.