"Der Tod wohnt nebenan": eine kleine Störung der Totenruhe mit
Musike in der Berliner "Schalotte" am 06. Mai 2009

 

Bericht: Andreas Hähle
Fotos: Patricia Heidrich

001 20140112 1959570467

Requiem: Luci van Org
Predigten: Thomas Sabottka
Das Café Theater "Schalotte" erinnerte mich innen stark an jenes Haus, in welchem ich filmisch, theatralisch und musikalisch groß geworden bin: an das Lichtspiel-Theater-Haus in Neukieritzsch. Das gibt es leider nicht mehr. Und legendär wurde es nicht deswegen, weil ich dort einen großen Teil meiner Kindheit verbrachte, sondern weil die Band "Karussell" dort probte, als es baupolizeilich gesperrt war. Ja, die Jugend. Jetzt geht´s aufs Alter zu. Da kann man sich so ein Programm wie "Der Tod wohnt nebenan" gern schon mal ansehen. So zur Eingewöhnung...
Der Abend begann mit einem Auftritt des heute in Frankfurt/Main lebenden und in Berlin geborenen Autoren und Schauspielers Thomas Sabottka. Und ohne Beifall. Sabottka bezeichnet sich selbst als Pop-Literat. Ein Begriff, der vor einigen Jahren gewaltig in Mode war, eher eine Erfindung der Feuilletons, und heute recht bedeutungslos ist, auch wenn in der Tat nicht alle Literaten populär sind. Sabottka ist es wohl und das zu Recht, wie ich meine. Er trug ein Halbgedicht vor (vielleicht war´s ja auch ein ganzes und er tat nur so, als würde er es nur halb vorlesen, bei Gedichten ist das immer so eine Sache...), abgekürzt durch einen Schuss von der dominanten Lady Luci van Org. Genau in die Schläfe. Aber ohne Blut. Und ohne Wunde. Irgendwie markierten (im Sinne von andeuten) die beiden mal eine Art Verhörsituation, mal ein psychologisch abhängiges Verhältnis zwischen Dominanz und Unterwerfung. Durchgehalten wurde beides nicht, was auch völlig egal war, denn es war überhaupt nicht nötig. Die den Abend vollständig durchgehaltene unmarkierte und daher sehr deutlich spürbare Harmonie zwischen ihm und ihr war spannender gar, ziselierter in der Ironie und gab dem Abend jene kleine zusätzliche Würze, die dessen Geschmack abrundete, ohne aufgesetzt und gespielt sein zu müssen. Manchmal muss man gar keine Atmosphäre schaffen, um eine wunderbare Atmosphäre herzustellen. Und das ist schon mal groß.
Nach dem Schuss sang Luci van Org "Sei dir nicht sicher, was du siehst" ("Sicher", CD und Buch "Der Tod wohnt nebenan"). Ein aufklärerisches Lied über Wahrnehmungsstörungen, Fehlinterpretationen und andere unter bestimmten Umständen tödliche Irrtümer. Zum Glück bin ich mir nie sicher über das, was ich sehe. Ich bin ja halbblind, ein Maulwurf, ich muss da schon eher dem vertrauen, was ich fühle...
Das dem folgende Prosastück war nach einer Pflanze mit Acker benannt. Ich bin mir nicht sicher - da haben wir es wieder - ob es diese Pflanze überhaupt wirklich gibt und bevor ich vom Autoren wegen falscher schriftlicher Wiedergabe des Pflanzennamens geschlagen werde, empfehle ich Euch einfach das Buch "Was bleibt" von ihm. Da ist die Geschichte drin und da erfahrt Ihr auch, welche Pflanze ich meine und wie sie geschrieben wird. Es ging in dem Werk auch nicht wirklich um die Pflanze, nur so nebenher, obwohl sie wiederum auch nicht ganz unbedeutend für die Geschichte ist, allerdings eher zufällig, also in der Geschichte. Der Autor hat sie schon ganz bewusst benannt und verwendet, warum auch immer, das wissen wir nicht. Aber wie sagte schon ein ganz berühmter Literaturprofessor, der irgendwo bei mir nebenan wohnt, weil er ja schon tot ist: "Wenn wir uns jetzt die Frage stellen, was wollte der Dichter uns damit sagen, dann müssen wir uns auch die Frage stellen: Warum... hat er das nicht gleich gesagt?" Ich hab Thomas Sabottka nicht gefragt, er hätte mir wohl allenthalben - mühsam sich zu erinnern versuchend, was denn da eigentlich der Auslöser war - erklärt, dass er den Namen jener Pflanze sehr schön fand. Und er hatte auch eine fast melodische sprachliche Schwingung... wenn ich doch nur wüsste, wie er geschrieben wird...
Blumen gehören auf Gräber. Darum ging es. Nein, nicht wirklich, 000 20140112 1923029066aber irgendwie doch. Zum Beispiel in Briesgau-Finkenwerder, da zum Beispiel zum Beispiel. (Anmerkung des eben Schaffenden an die Redaktion: die Wiederholung der sprachlichen Wendung "zum Beispiel" bitte nicht korrigieren, sie ist mit Absicht in den Bericht hineingewoben, aber bitte fragt mich auch nicht danach, was ich mir dabei gedacht habe. Danke!) Spätestens seit dem Auftauchen des sicherheitsfanatischen Sicherheitsanlagenvertreters Wolfgang Schäublauer (oder so) konnte und wollte man auch gern eine leichte politische Satire in diese Geschichte hinein interpretieren. Allerdings schreibt Sabottka nicht eins zu eins Linien, sondern er mäandert. Luci van Org ist in ihrer Prosa, das sollte ich etwas später an diesem Abend feststellen, fast genauso schlimmschön. Besagter Sicherheitsanlagenvertreter wurde von dem Squash-Ball der Frau Niemeier (oder so ähnlich) getroffen und dadurch quasi in den Pool geschossen. Weil er sich durch den Garten dieser Dame schlich. Aus sicherheitsfanatischen Gründen. Screwballartig erläuterte uns der Autor nun mit einfachen, aber wundervollen sprachlichen Mitteln den weiteren Verlauf dieser Squash-Ball-Comedy und der obskuren Flugbahn, die letztendlich den Herrn Herzog zum Erliegen brachte, durch Totbleiben nach Treffer. In dieser Geschichte. Also ruckartig. Irgendwie. Und der Milan, der war ja ganz heiß auf Sörens Meerschweinchen. Sören war der Sohn der Squashball-Aktivistin der letzten Stunden. Romanartig fügten sich hier also wie ein Spinngewebe mehrere Handlungsfäden ineinander. Unterbrochen von verhörsituationsunterstreichensollenden Fragen des wunderbar vorlesenden Autors wie: "Kann ich eine rauchen?" - "Darf ich wenigstens ein Glas Wasser trinken?", was von der Aufseherin aus dem Org-Büro immer wieder nett, aber bestimmt beantwortet wurde. Nicht mit "Nein", das wäre zu einfach... Statt des Milans hat es aber nun die merkwürdige Pflanze gesquasht. Wodurch ein paar Kinderskelette gefunden werden konnten, erst im Topf, in welchem jene Pflanze lebte, so lange sie lebte und dann auf dem entsprechenden Grundstück. Scheinbar keine Übermutter, die dort wohnte. Ihr konntet mir nicht folgen? Das liegt daran, dass es gar nicht geht, diese geschwinde und faszinierend komische Geschichte nach zu erzählen. Leider. Man kann sie sich nur anhören, wenn Sabottka sie vorträgt oder einfach selber lesen. "Was bleibt", so sein aktuelles Buch. (Infos über ihn unter: www.sabottka.de oder www.myspace.com/thomassabottka)
"Diene der Gebärmaschine" (CD "Unheil" der Luci van Org Band "Übermutter", www.myspace.com/uebermutter, www.uebermutter.de), irgendwie passend zum vorangegangen Text. Von der Übermutter Luci, die nun stellvertretend für ihre Band diesen Titel gitarrenakustisch sich selbst unterstützend präsentierte. Wonach Thomas Sabottka und Luci van Org ein wenig über Schweinegrippe plänkelten (der Autor war vergrippulariviert) und über das, was Frauen so brauchen, insbesondere die van Org. Aber zuvor noch erhielt Sabottka großen Beifall aus dem leider sehr kleinen Publikum für den einfachen, aber wahren und tapfer ausgesprochenen Satz: "Männer jammern gerne." Ja, wenn die Männer dazu stehen könnten, hätten Frauen wie Luci van Org nicht wirklich etwas dagegen...
Die halbmilitant halbfetischisierte Lady las nun mit dem Herrn eine Story aus ihrem Buch "Der Tod wohnt nebenan". Eine absurd-morbide Geschichte. Doch nicht ohne Moral: Man sollte keine Kinder belügen.
Bei dem Song nach dieser Geschichte "Ruhe sanft" (CD "Unheilig") ging der schweinegrippenverseuchte Sabottka, der sich durch diese Aktion als überraschend boshaft entpuppte, und das auch noch fein mit einem sanften Lächeln kaschierte, also wirklich, nein so was... von der Bühne und verteilte Bonbons unters Volk, und wer weiss was so an Unsichtbarem noch so alles mit, denn wir hatten ja von Luci van Org gelernt: "Sei dir nicht sicher, was du...". Vielleicht war deswegen so überraschend und zu Unrecht wenig Publikum da, weil die anderen, die auch kommen wollten, schon von diesen Bonbons gegessen haben... Denn die prägnante Trauermelodei ("Ruhe sanft, kriech in meinen Schoß") vibrierte mit großer Stimme gesungen und erschien nur im Text und nur da und da nur ein kleinklitzekleineswenig sexsüchtig. Luci van Org singen zu hören ist schon ein Erlebnis, welches den darauf folgenden süßen Bonbontod rechtfertigen würde. Aber das wissen ja sicher die Meisten von Euch bereits. Thomas Sabottka lesen zu erleben ist nichts, worauf man nach dem Lesen dieses Berichts, dessen Wahrheitsgehalt ich namentlich beglaubige, freiwillig verzichten sollte, wenn man die Gelegenheit dazu hat. Das in Berlin leider etwas spärlich anwesende Publikum habe ich ja bereits erwähnt. Aber dafür bestand es aus lauter interessanten Menschen. Nicht nur optisch, nein, es war auch aus Gesprächsfetzen zu entnehmen, die ich in der Pause aufschnappen konnte. In der sich mein als Weg und wer weiss was sonst noch alles Zehrung-Bonbon als Schokolade entpuppte. Die nach einer Stunde genehmigt wurde, obwohl es uns so vorkam, als wären erst einige Minuten des Programms vergangen. Mit der Einlasserin (seit 22 Jahren da tätig!) der "Schalotte" arbeitete ich mal in einem Nebenjob, also unterhielt ich mich vor allem mit ihr. Sie gab mir einige Tipps für andere Nebenjobs, denen ich mit Sicherheit mal nachgehen werde. Das war nun weniger dem Tode nahe, eher mehr mitten im Leben. Und ich muss ehrlich zugeben, so morbide fand ich das Programm gar nicht, auch nicht zu makaber. Jede Form aufgepflanzter provokanter Geschmacklosigkeit fehlte, es war alles so, wie es sein sollte und wie man mit dem Thema Tod umgehen sollte, ihn so nehmend wie er nun mal ist. Frech fand ich es ein bisschen und amüsant, die Flyer für dieses Programm und die Plakate wie eine Todesanzeige gestaltet zu sehen (siehe unten).

 002 20140112 1578472071

Ich war angetan. Auch von weiteren Pausengesprächen, in die sich Patti gerne verstricken ließ. Da tauschten sich die Ossis und die Wessis über ihre unterschiedlichen (auch altersbedingt verschiedenen) kulturellen Erfahrungen mit Schulmilchflaschendesigns aus. Das hat zwar nichts mit dem Programm zu tun, aber so war die Stimmung halt in der Pause. Lebendig.
Nach der Pause führte uns Thomas Sabottka in die Geschichte des Wiener "Friedhofs der Namenlosen" ein (www.friedhof-der-namenlosen.at). Denn dieser inspirierte ihn zu den Texten seines Buches "Was bleibt". Und aus diesem trug er den Text "Memorial" vor. Gemeinsam mit Luci van Org. Darüber, was einem so widerfahren kann, wenn man bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostiziert. Eine Blutkrankheit. Eine ganz seltene. Und dann von einem Vampir verfolgt wird, aus eben diesem Grund, was zu einer unausweichlichen Konfrontation führen wird. Diese zu einer physischen und psychisch-philosophischen Auseinandersetzung. Es ist ja ein todessehnsüchtiger Vampir. Passend zu der Ursprungsinspiration dieser Geschichte (bitte oben genannte Homepage beachten!) und sowieso unverzichtbar das "Lied für meine Feinde" (CD Das Haus von Luci "Der verbotene Raum"), nachgesungen bereits von vielen. Schön, dieses kraftvolle Lied mal von der Original-Sängerin live zu hören.
"Der Tod wohnt nebenan". Wie der Titel des Programms, so heißt auch das Buch von Luci van Org (mit CD). Daraus hörten wir nun die Geschichte "Der Scheinriese". Wobei Thomas Sabottka sie aus dem OFF und als "Scheinriese"-Stimme unterstützte. Eine Geschichte, welche ein wenig Einblick gab in das dürftige Leben einer überlagerten Taxifahrerin. Und das in ihr lodernde Geheimnis über einen seltsamen Fahrgast. Der einzige Fahrgast, der sie nie langweilte. Abzuholen immer wieder an einem Wasserfall. Der Scheinriese eben. Ganz in Schwarz. Wir nahmen Anteil am Denken der alternden Berufs-PKW-Fahrerin. Bis der Scheinriese sie anrief, um ihre Fahrdienste in Anspruch zu nehmen. Der, der immer erst riesig erschien von weitem, doch beim Näherkommen immer kleiner wurde. Bis er ganz normal aussah, die Größe betreffend. Der Scheinriese eben. Nein, nicht der aus der "Augsburger Puppenkiste". Der sprach plötzlich mit ihr, der Scheinriese aus der Geschichte, was er sonst nie machte. Und deshalb begann sie mit ihm zu streiten. Und deshalb begann sie, sich ihm anzuvertrauen. Und ein bisschen verliebt war sie in ihn, wie wir schon wussten, bereits zuvor. Und deshalb machte sie ihn allein durch ihr Interesse an ihm glücklich. Es war der Tod, wie wir alle, die wir gespannt lauschten, ja schon ahnten und wussten, etwas klüger in diesem Moment als die Taxifahrerin in der Geschichte. Es war auch ihr Tod. Doch das war nicht wirklich die Pointe. Nur ein bisschen war es das. Wie schon von mir beschrieben, die Geschichten - ob nun Thomas Sabottkas oder Luci van Orgs - lassen sich nicht nacherzählen. "Der Tod wohnt nebenan" gibt es mit den Liedern. Zu den Geschichten. Oder umgekehrt. Je nach Sichtweise. Zum Beispiel mit dem Lied, welches Luci van Org nach der Geschichte über die Taxifahrerin zu ihrer Gitarre vortrug. "Loslassen". Das Lied für den Scheinriesen, aber wohl nicht nur für den. "will nur eines von dir wissen: warum die, die wir lieben, so früh gehen müssen".
Zum Abschluss noch ein Witz (endlich auch mal einer, den ich mir merken konnte) und "Wein mir ein Meer" (auch auf youtube zu finden). Und so drang die wandelbare Stimme Luci van Orgs zum Unvergessenwollen und -können noch einmal tief unter die Haut. Wieder ein Lied aus ihrem "Übermutter"-Projekt, an diesem Abend ohne ihre "Unheilsarmee". Als Zugabe las Thomas Sabottka die todesromantische Geschichte "Für Immer".
Gitarrenklänge untermalten diesen Vortrag leise. Eine Geschichte wie ein Gedicht. Ein bisschen der egomanische Verlusttrip. Nur mit sanft-lockenden und todsicher tödlichen Konsequenzen. Sterben kann doch so schön sein. Und so schön beschrieben sein. Und so schön vorgetragen werden. Wenn ich eines Tages tot gehen sollte, hätte ich gerne Thomas Sabottka als Grabredner. Mit diesem Text.
"Das Winterlied" beendete den Totentanz. Ein neuer Titel, ein ganz neuer Titel, wie Luci van Org uns mitteilte, dieser so unglaublich vielseitigen und vielstimmigen Sängerin. Blumig und stramm dazu eine choreographierte Bewegungslosigkeit des Wortmagiers zu dieser Sehnsuchtsleidenshymne. Das Wetter als Synonym für sich selbst, für die Liebe, für die Gesellschaft, für die Welt. So möge es gerne wieder wärmer werden und diese Welt vom Eise befreit. Vor und nach dem Tode. Im Schosse der Übermutter Luci van Org, beträufelt von den Predigten des wegweisenden Todesengels Thomas Sabottka. Der Tod... kann auch Spaß machen und wunderschön sein.

 


Foto Impressionen:

 

 


   
   
© Deutsche Mugge (2007 - 2023)

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.