EXTRABREIT live am 03. Oktober 2009 in Hamburg

 

Bericht: Holger Stürenburg
Fotos: Pressefoto

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Der Verfasser dieser Zeilen hat als überzeugter Nicht-Fernseher bzw. revolutionärer TV-Boykotteur gottlob nicht mitbekommen, wie viele heuchlerische, pathetische Sonntags- resp. in diesem Falle Samstagsreden zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit, am 03.10.2009, gehalten wurden. Da wurde mit einiger Sicherheit in schwülstigsten Worten die teutonische Nachkriegsgeschichte herauf und herab gebetet... ich denke mal: Langeweile in Höchstform, schon tausendfach zuvor gehörte Worte und Phrasen, bestenfalls in abgewandelter Variation. Dies wollte ich mir wahrlich nicht zumuten, obwohl ich alles andere, als historisch desinteressiert bin. Nur gibt es einfach spannendere Mittel und Wege, sich mit dem problemreichen und trotz allem von Erfolg gekrönten Weg dieses unseren Landes in den Jahren 1945 ff. auseinanderzusetzen.
Ein Garant hierfür ist die einst aus Hagen stammende Deutschpunkband "EXTRABREIT". Sänger Kai Hawaii, Leadgitarrist Stefan Kleinkrieg - die einzig verbliebenen Gründungsmitglieder der unzerstörbaren NDW-Legende - und ihre drei jugendlichen Mitstreiter Bubi Hönig (git), Rolf Möller (dr) und Lars Larsson (b) haben es seit ihrer Gründung 1978 ein ums andere Mal vermocht, immer wieder in trefflichster Manier den jeweils herrschenden Zeitgeist aufzuspießen und zu karikieren, Lieder zu schreiben die Geschichten und Geschichte zeitgleich erzählen - und dies stets in perfektester, zynisch-sarkastischer Ausformulierung, ernst und augenzwinkernd gleichermaßen. "Proudly Presented" vom ‚Herrenmagazin' "Penthouse", gab sich das Quintett eben am 03.10.09 im Hamburger Club "Knust" die Ehre, mehreren hundert Beinhart-Fans, sowohl unverbesserlichen 80er-Kindern, als auch aufgeschlossenen Nachgeborenen, weit über 90 Minuten lang, rockig-punkigen ‚Geschichtsunterricht' zu offerieren.
Nachdem gegen 21.00 Uhr eine extrem faszinierende Band namens "Betty Blitzkrieg" (eine Art "Ton Steine Scherben 2009", über die ich mich dieser Tage schlau mache und die ich sehr gerne demnächst an dieser Stelle gesondert vorstelle) das ausverkaufte "Knust" genüsslich eingeheizt hatte, betraten eine Stunde später die "Punk-Historiker" von "Extrabreit" die Bühne des gemütlichen Konzertsaals nahe des Schanzenviertels. Los ging's mit der allerersten "Extrabreit"-Single, "Hart, wie Marmelade", die längst als DIE Erkennungsmelodie der ewig Jungen und ewig Breiten gilt. "Glück & Geld" aus dem 1981er-Album "Welch ein Land - Was für Männer" setzte sich zynisch mit den Wünschen der BRD-Bewohner kurz vor der "geistig-moralischen Wende" auseinander - ja, und nur wenige Wochen vor der Bildung einer erneuten schwarz/gelben Regierungskoalition, erkennt der versierte Beobachter, daß dieser treibende, rasante Hymnus bis heute nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat.
2008 veröffentlichten "die Breiten" ihr wahrhaft bahnbrechendes Opus "Neues von Hiob" (Rodeo Star Records/Vertrieb: Cargo). Fraglos ein Meilenstein des Deutschrock im neuen Jahrtausend. Einer der musikalischen Höhepunkte daraus nennt sich "Andreas Baaders Sonnenbrille". Hierin geht es um einen (auf den ersten Blick) ganz biederen, bürgerlichen Mann, der eines abends, aus purer Langeweile, bei E-Bay herumstöbert und dort ein Angebot einer gewissen Person aus Stuttgart vorfindet. Genau gesagt, eine Sonnenbrille, die einst, in der Hochphase des RAF-Terrors vor 30/35 Jahren, von - genau - Andreas Baader himself getragen wurde. Das Lied-Ich ordert diese Offerte, setzt sich das Teil auf - und "fühlt sich so wie einst / als Staatsfeind Nummer Eins" (Textzitat). Eine brachiale Auseinandersetzung mit einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte - zynisch, derb, heftig - aber m.E. weitaus wirksamer, als jede süßliche Betroffenheitsballade oder tränendrüsendrückende Jammerreden irgendwelcher Politiker.
Auf diesen bitterbösen Kulthit, folgte der "Bullen-Blues" (Zitat: Kai H.) "Polizisten" (1981), den der - jetzt nicht lachen! - von mir hochgeschätzte (!), damalige bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß als "Verunglimpfung des Berufstands der Polizisten" bezeichnet hatte, weshalb dieser total präzise Top-30-Hit im Bayerischen Rundfunk seinerzeit stehenden Fußes auf dem Index landete und Jahrelang nicht gesendet werden durfte. Zusammen mit dem so genialen, wie alkoholkranken Allround-Talent Harald Juhnke spielten "die Breiten" 1996 den philosophischen Überlebens-Hymnus "Nichts ist für immer" ein, auf den das grandiose, provokante Anti-Liebeslied "Jeden Tag - Jede Nacht" am 03.10.09 in Hamburg folgte. Auf "Neues von Hiob" befindet sich weiters die phänomenal austarierte "Nachkriegs-Halbballade" (Kai H.) "Besatzungskind" - wieder mal bestechender ‚Geschichtsunterricht in Noten': Ein US-Soldat landet im II. Weltkrieg in der Normandie, überquert 1945 den Rhein, lernt in Remagen ein bildhübsches deutsches Madel kennen, zeugt mit ihr ein Kind... der Herr Vater ist längst im Koreakrieg aktiv, als der farbige Junge in der Schule, nur ob seiner Hautfarbe, häufig verprügelt wird - doch das "Besatzungskind" wird plötzlich berühmt, reist zu seinem Vater in die USA und beweist ihm, daß aus einem geborenen Verlierer, allen Unkenrufen zum Trost, problemlos ein absoluter Siegertyp werden kann!
Nun ertönte DER fundamentale "Extrabreit"-Favorit des Verfassers dieser Zeilen: "Ruhm"! Eine treibende, freche, offensive Liebeserklärung an einen weiblichen Teeniestar - der Legende nach, hat Kai Hawaii diesen Titel 1984 dem "neuen deutschen Fräuleinwunder" ("Stern") Nena gewidmet; ein wundervoller Song, der alle Vorzüge und Nachteile des schnellen Ruhmes punktgenau und pointiert auf den Punkt bringt. Was damals, zu unserer Zeit, Nena war, stellte in den 90ern Britney Spears dar, und ist 2009 vielleicht Helene Fischer. Zeitkritisch, zeitgeistverachtend und zeitlos in einem! Einfach nur Klasse!
1993 baten Kai & Co. niemand geringeres ins Studio, als die Große Dame des deutschen Chansons, Hildchen Knef. Diese war sofort bereit, einen ihrer größten Erfolg, genau gesagt: "Für mich soll's rote Rosen regnen", im drallen Punk-Kontext neu einzuspielen. Diese Neufassung war alles andere, als eine lärmende Verhunzung - sie war vielmehr eine graziöse Ehrerbietung, eine Hommage an eine wunderbare Künstlerin - klar, daß "Extrabreit" diesen Titel bis heute regelmäßig bei ihren Konzerten voller Ehrfurcht vor "der besten Nicht-Sängerin der Welt" (Ella Fitzgerald) aufführen!
"Kleptomanie", eine knallharte Ad-Absurdum-Führung des Kaufrauschs der frühen Kohl-Jahre, die so abgeklärte, wie liebenswerte Liebeserklärung "Küß mich" - aus "Neues von Hiob", ein Lied über zwei einsame Menschen, die keinen Partner finden und daher aus Sachzwang gemeinsam alleine sein wollen -, die 1991er-Rarität "Der letzte Schliff", das brodelnde Sozialdrama "Kokain" und die aktuelle Auskoppelung aus "Neues von Hiob", "Tanzen", leitete über in die Abteilung "Härter - Schneller - Lauter".
"Liebling", "3-D", "Lottokönig", "Sturzflug" und natürlich die nicht tot zu kriegende SM-Lady "Annemarie" entführten uns im Zwei-Minuten-Rhythmus in voller Pracht in die frühen 80er, als alles nicht nur "besser", sondern eben auch "härter, schneller & lauter" war! Das "Flieger-Lied" - dazu sag ich nix mehr ;) das kennt Ihr eh alle - beendete den ‚offiziellen' Teil der Aufwartung von "Extrabreit" am 03.10.09 zu Hamburg.
Das Publikum sang jedes einzelne Lied - ob aus den 80ern, ob aus "Neues von Hiob" - Wort für Wort und textsicher mit. "Zufallsgäste" waren im "Knust" nicht vor Ort. Jeder Besucher, jede Besucherin, wusste ganz genau, wieso er/sie sich an jenem "Abend der Deutschen Einheit" auf den Weg in die Schanze gemacht hatte. "Der Präsident ist tot" eröffnete den Zugaben-Part. Dieser düstere Titel entstand 1981, nach dem Attentat auf US-Präsident Ronald Reagan am 30. März jenen Jahres. Wieder mal "Extrabreit", wie sie leiben und leben: Keinerlei aufgesetzte Betroffenheit, vielmehr eine drastische, zynische Auseinandersetzung mit einem Thema, das damals die Welt bewegte; ohne Pathos, in einfachen, aber eindringlichen Worten nacherzählt. Nach dem temporeichen Punkrocker "Extrabreit" (1980), ging nun erst mal die Lehranstalt in Flammen auf. "Hurra, Hurra, die Schule brennt" vermittelt weitaus mehr "gefühltes Gefühl" der beginnenden 80er Jahre, als jeglicher noch so hochgestochen verfasster Feuilleton-Beitrag irgendeines Elfenbeinturm-Historikers. WIR - WIR unverbesserlichen 80er-Kinder - waren einfach so. DIES war das Denken und Fühlen nicht weniger verschüchterter (innerlich aber im wahrsten Sinne des Wortes "brennender") Pennäler! Ja, und dann ertönte der gewohnte Rausschmeißer: "Junge, wir können so heiß sein". Eine unvergleichliche Milieustudie über Verlierer-Jugendliche in irgendeiner Hochhaussiedlung, musikalisch stark an Lou Reeds "Take a Walk on the Wild Side" angelehnt; eine Geschichte über junge Leute, die soooo gerne soooo "heiß" wären, wie Großmeister Lou; die es aber niemals schaffen, aus ihrer Unterschichtswelt herauszukommen - sie wollen, sie flehen, aber, wie das Leben so spielt, es gelingt ihnen einfach nicht...
"Extrabreit" sind und bleiben auch im 31. Jahr ihres Bestehens die ultimativen "Punk-Historiker". Sie vermitteln auf beste Art und Weise das Denken und Fühlen der Nachkriegs-BRD mittels hervorragender, eingängiger, rasender Rock'n'Roll-Melodien, garniert mit stets zutreffenden Texten. Kai Hawaii, Stefan Kleinkrieg und ihre Begleiter präsentieren besseren, prägnanteren Geschichtsunterricht, als der best ausgebildete Oberstudienrat Dr. von und zu. "Extrabreit"-Auftritte sind Zeitreisen in die Untiefen der letzten 60 Jahre BRD. Ich kann jedem Menschen, der die Irrungen und Wirrungen der teutonischen Nachkriegsgeschichte mal auf eine ganz andere Art kennenlernen bzw. nachempfinden mag, nur dringlichst empfehlen, in Bälde das eine oder andere Konzert von Kai, Stefan & Co. zu besuchen. Nach einem solch schweißtreibenden Abend, weiß man weitaus mehr über die bundesdeutsche Wirklichkeit, als nach dem Wälzen dicker, trockener Geschichtsbücher!

Bitte beachtet auch:
www.die-breiten.de

 


   
   
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