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Interview vom 8. Januar 2020



Wer jetzt im Januar eines der Konzerte von den 3 HIGHligen besucht, wird auf der Bühne ein neues und bis dahin bei diesem Ensemble unbekanntes Gesicht entdecken, nämlich das von Karl Neukauf. Der Name ist hier auf dieser Plattform auch schon einige Male gefallen, und wer die bei uns vorgestellten Platten von André Herzberg ("Was aus uns geworden ist") oder vom Fährmann ("Neunzig Liter und mehr") gehört und etwas in den Credits gestöbert hat, wird ihn dort auch schon gelesen haben.001 20200109 1853994420 Der in Kassel geborene Musiker hat aber auch schon ein paar eigene Alben veröffentlicht, davon ist das 2018 in den Handel gekommene "Hinter Geranien und Gardinen" das aktuelle Werk. Einen interessanten Werdegang hat Karl bis zu diesem Punkt vorzuweisen und sein bisheriger Weg in der Szene hat bereits ein paar bemerkenswerte Haltestellen, die unser Kollege Christian in einem Gespräch mit dem Musiker besuchen wollte. Neben vielen positiven Entwicklungen und erfolgreichen Schritten, gibt es in seiner Vita aber auch zwei besonders einschneidende Erlebnisse, die ebenfalls Thema wurden, denn Karl Neukauf hatte im Jahre 2016 kurz hintereinander gleich zwei Mal direkten Kontakt mit dem Terror, als er an den Anschlägen in Nizza und Berlin dicht dran war ...

 


 

Hallo Karl … Eine kurze Frage vorweg: Auf welchen Wegen wirst Du vom Publikum entdeckt?
Ich denke ganz normal, wie es bei vielen anderen Künstler*Innen auch ist. Konzert - mein eigenes oder bei anderen als Sessionmusiker -, YouTube, Instagram, Facebook, Kritiken in Zeitschriften oder Zeitungen.

Was glaubst Du, was die Leute an Dir als Künstler zuerst entdecken: Dein äußeres Erscheinungsbild oder Deine Stimme?
Menschen, die mich nur hören, erwarten ein eher älteres Äußeres. Andere, die mich nur sehen, stellen sich wiederum eine Stimme vor, die deutlich jünger oder tenoraler klingt. Aber da wird ja die Zeit diese Diskrepanz von alleine lösen (schmunzelt).

Ich frage das deshalb, weil Deine Stimme nun einige Besonderheiten aber allem voran eine deutliche Wiedererkennbarkeit hat. War die Stimme für Dich auch von Anfang an das Instrument, auf das Du für Deine Musikkarriere gesetzt hast, oder wolltest Du als Junge lieber Gitarre, Bass oder Schlagzeug spielen?
Das war eher Zufall mit dem Singen. In der ersten Band wollte einfach niemand ernsthaft als Sänger fungieren. Also habe ich dann gesungen. Obwohl ich singende Schlagzeuger eigentlich doof fand. Die Musik waren eigene Sachen im Stile von Roxy Music und Procol Harum - deren Sänger wahrlich zwei Oktaven über meinen Fähigkeiten in höchsten Sphären schweben.002 20200109 1357315319 Unser damaliger Lieblingspizzabäcker aus Ankara hat mich erst auf den Trichter gebracht, dass ich vielleicht doch tiefer singen sollte: Wir spielten ihm ganz stolz in `ner Probenpause ein paar Songs vor und er guckte uns etwas merkwürdig berührt an - lag vielleicht auch an der schwachen Qualität der Kassettenaufnahme - und fragte, wer denn der Sänger sei? Als die anderen drei Kollegen den Blick auf mich richteten, sagte er nur herrlich beiläufig, während er vier Funghi-Pizzen aus dem Ofen holte: "Schade, du hast so herrliche tiefe Stimme - warum hoch?"

Weißt Du noch, was Dein erstes Album war, das Du Dein Eigen nennen konntest, und welches Konzert Du als erstes besucht hast? Und gab es damals Musiker oder Bands, die Dich inspiriert oder so stark beeinflusst haben, dass Du Dir einen bestimmten Stil aufgedrückt hast?
Ich bin die ersten Jahre quasi komplett mit klassischer Musik aufgewachsen. Beethoven, Bach, Mozart, Mahler, Verdi. Mit 5 Jahren zum ersten Mal in der Oper und dann auch bald ein Abo, mit 7 der erste Theaterbesuch und mit 12 Jahren zum ersten Mal im Kino und bis 18 auch nur drei weitere Besuche. Alles etwas unorthodox. Die entscheidende Platte, die wirklich was in mir bewegt hat, war aber eigentlich ein Zufall und Missverständnis zugleich. Meine Mutter bestellte dereinst immer Goethe Bücher beim sogenannten "Bücherbund" - alle Vierteljahr einen weiteren Band. Doch in einem Quartalsheft gab es keinen Goethe. Und irgendwas musste man bestellen, sonst wurde einem etwas zugeschickt, was man bestimmt nicht lesen wollte. Ganz frisch im Programm waren dort aber auch CDs. Ich saß vorm Fernseher und schaute im Hessen Fernsehen eine alte schwarz/weiß Musiksendung. Ich glaube es war der BeatClub. Und da sang so´n Typ "Lady Lay" - von Pierre Groscolas, was ich aber damals nicht wusste. Die Nummer gefiel mir gut und die hätte ich gern nochmal gehört bzw. als CD gehabt. Dann blätterte ich durch das "Bücherclub-Heft" und entdeckte "Singles Collection - The London Years" der Rolling Stones. Und was erspähte ich da auf der Titelliste: Lady Jane. Das muss die Nummer gewesen sein, die eben im Fernsehen war. Sonst hatte ich von den Stones noch nie was gehört. Als die 3er CD Box dann mit der Post kam und ich CD 2, Lied 8 einlegte … So eine große Enttäuschung. Das war natürlich NICHT der Song aus dem TV. Frustriert hab ich das Album dann in den Schrank geräumt. Ein paar Wochen später sang auf dem Schulhof ein guter Schulfreund nach einem verlorenen Tischtennis-Spiel "I can´t get no … Satisfaction" - warum auch immer. Ich dachte: "Moment, diesen Titel hast du doch auf dieser doofen Stones Platte gelesen." Und so blieb dann die Platte fast ein ganzes Jahr im CD-Spieler - es kamen alle anderen Stones-Platten dazu und selbst "Lady Jane" mag ich heute ganz gerne ... Und so waren die Rolling Stones auch das erste große Konzert.003 20200109 1405349702 Am 26. August 1998 in Berlin. Eigentlich wäre es schon im Mai gewesen. Die Tour wurde verschoben, weil ja Keith Richards kurz vor Tourstart von der Leiter in seiner Bibliothek gepurzelt ist. Und über die Stones, Kritiken im Rolling Stone und fleißiges Liner-Notes-wer-spielt-welches-Instrument-Lesen bin ich dann zu den Musiker*Innen gekommen, die ich heute noch als "Heroes" bezeichnen würde: Beatles, insbesondere George Harrison, Pet Sounds (Beach Boys), Grand Hotel (Procol Harum), Blonde on Blonde (Bob Dylan), Nicky Hopkins, Urban Hymns (The Verve), Kula Shaker, JJ Cale, Bryan Ferry, Lou Reed, Boomers Story (Ry Cooder), Howlin Wolf, Sheryl Crow, Marianne Faithful, Blumfeld, BAP, Robert Plant, Tom Waits, Udo Jürgens, Randy Newman … wieviele Zeilen darfst du schreiben? (fragt Karl lachend und zündet sich eine Zigarette an).

Wir sind da ohne Limit :-) ... Du bist gebürtiger Kassler, lebst inzwischen aber in Berlin. Wann hat es Dich in die Bundeshauptstadt verschlagen und warum bist Du dahin gezogen?
Ich bin 2009 nach Berlin gezogen. Kreuzberg. Eigentlich wollte ich hier meine Promotion schreiben, da ich es leid war, sämtliche Bücher via Fernleihe nach Marburg, wo ich studiert hab, schicken zu lassen. Naja, dann kam nach einem Jahr das Plattenlabel "Timezone", die meine Sachen via MySpace gehört hatten, dazwischen. Und aus der angedachten "Sabbat-Jahr-Auszeit" sind nunmehr 9 Sabbat-Jahre und vier Platten geworden.

Du bist ein richtiger Multiinstrumentalist, spielst neben Gitarre, Bass und Klavier auch noch Schlagzeug und Sitar. Wie bist Du denn an das zuletzt genannte Instrument und das Spielen darauf gekommen?
Das lag an den Songs "The inner Light" der Beatles und "In Held t´was in I" von Procol Harum. Der Klang hat mich fasziniert - ohne jemals eine Ahnung davon gehabt zu haben, wie das Instrument wohl aussehen könnte, geschweige denn, es bespielen zu können. Von meinen Eltern wünschte ich mir dann zu Weihnachten, Ostern und zum Geburtstag zusammen eine Sitar. Als ich diese dann nach 4-monatiger Lieferzeit im Musikhaus in Kassel abholte, schauten sowohl die Mitarbeiter des Ladens als auch ich etwas ratlos in diese nicht gerade kleine Kiste, die von Form und Farbgebung aussah, als hätte dort eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg ein mobil-tragbares zu Hause gefunden. Und schnell wurde mir auch klar, dass ich mit den 20 Saiten die aufgezogen waren, auch dezent überfordert war. Also musste ein Lehrer her. Nur wer und wo? Nachdem ich dann sämtliche indische Teppichgeschäfte in Kassel abgeklappert hatte - also mehr Klischee gepaart mit Ahnungslosigkeit geht wirklich nicht - wurde ich dann an der Ayurveda Klinik fündig. Der dortige Chefarzt wurde für drei Jahre mein Lehrer. Dr. Ananda Samir Chopra hat in Calcutta Musik und in Köln Medizin studiert und beides an der Klinik miteinander kombiniert. Der Unterricht dauerte immer knapp drei Stunden. Meditieren, singen, meditieren, Sitar stimmen, meditieren, Sitar spielen, meditieren, Tee trinken. Das alles im Schneidersitz, wo die Beine eigentlich nach 20 Minuten schon weg gedämmert waren.004 20200109 1921179103 Und zum Schluss hat er mir noch Nachhilfe in Bio gegeben, weil ich sonst im hohen Bogen durchs Abi gerauscht wäre - also eine wahnsinnig inspirierende und prägende Zeit. Sehr zu empfehlen (lacht).

Wieviele der aufgezählten Instrumente hast Du - wie die Sitar - mittels Unterricht erlernt, und welche davon hast Du Dir selbst beigebracht?
Es begann ganz klassisch mit musikalischer Früherziehung, dann kam ein Blockflöten-Quartett. Super Sache im Nachhinein. Wenn das Instrument am Anfang nicht übermäßig schwer zu erlernen ist, kann man sehr früh Zeit auf das miteinander Musizieren, Zuhören und die musikalische Gestaltung verwenden. Eigentlich der wesentliche Aspekt des Musikmachens, sei es in einem Chor, Orchester oder einer Band. Mit 8 Jahren kam das Klavier und mit 13 das Violoncello dazu. Gitarre, Bass und Schlagzeug folgten dann im Ohr- und Augenstudium bei Johnny Cash, Paul McCartney und Charlie Watts.

Mein lieber Freund Alex hat mir Dein Album geschenkt, das im November 2018 bereits erschienen ist und "Hinter Geranien und Gardinen" heißt. Wenn man nach der Reihenfolge der genannten Einrichtungsgegenstände im Titel geht, handelt es sich um einen Blick aus dem Fenster nach draußen, richtig? Was hast Du dort gesehen, dass Du Dein Album letztlich so nanntest?
Es ist tatsächlich beides gemeint. Der Blick von draußen, die Außensicht auf geschmückte, blumenverzierte Fassaden. Doch was ist "wirklich" dahinter? Wer kann schon wirklich "hinein schauen" hinter Fassaden und Gesichter? Und dann gibt es noch die Innensicht nach draußen. Oder eben auch "ohne Sicht". Durch die modernen Medien und Kommunikationsformen muss man überhaupt nicht mehr raus gehen. Sämtliche Bestellungen, selbst Kopfsalat, werden nach Hause geliefert und Menschen können ihre eigene Wirklichkeit kreieren. Gardinen zugezogen. Fertig. Nur kann man dann die Geranien nicht mehr sehen. Und nicht mehr gießen. Ok, müssen ja auch keine Geranien sein …

Es befindet sich eigentlich kein Lied darauf, das man für die Feier im heimischen Partykeller als Rahmenprogramm auswählen würde. "Sarg niemals nie" z.B. ist ja schon ziemlich finster, wie ich finde. Und das finde ich gut! Wie kommt man darauf, den letzten "Schrank", den man im Leben kauft - oder gekauft bekommt - zum Thema eines Liedes zu machen, und dann noch auf diese Art und Weise?
Haha, ja ... so ein bisschen Tom Waits in deutscher Sprache und dazu ganz muntere Worte :-) Als mein Opa starb kam ich auf die Textidee. Ich find es einfach unfassbar teuer, was so eine Beerdigung und insbesondere ein Sarg kosten. Und da kam ich auf die Idee:005 20200109 1518347655 "Warum nicht zu Lebzeiten selber zusammen zimmern und vorher noch nützlich im Haus(halt) gebrauchen?" Dann würde vielleicht auch die Todesangst ein wenig schwinden. Denn Dinge die man schon lange um sich hat, kommen einem ja nicht mehr so fremd vor bzw. man muss nicht mehr in Angst und Besorgnis darüber verfallen.

Eher zerbrechlich und filigran wirkt dagegen ein Stück wie "In dieser Stadt". Manch einer würde bei dem Titel denken, es geht um die Schönheit des Orts, wo Du Dich beim Schreiben des Stücks befunden hast, aber im Text geht es weiter mit, "in der es Dich jetzt grad' nicht gibt". Liegt diesem Text und dem Song eine Fernbeziehung als Vorlage zu Grunde?
Ja absolut. Jemand den man vermisst im Allgemeinen, Fernbeziehung im Speziellen - alles spielt in diesem Stück mit rein. Obwohl ich mir bei dem Titel "In dieser Stadt" lange nicht sicher war, denn es gibt ja auch ein Stück desselben Titels, von der mir sehr geschätzten Hildegard Knef.

Ich muss an dieser Stelle mal eine Frage dazwischen schieben: Ich habe gelesen, dass Du im Jahre 2016 innerhalb eines halben Jahres den Terroranschlägen sowohl in Nizza als auch in Berlin ziemlich nahe gewesen bist. Du warst zwar nicht direkt an den Orten des Geschehens, aber in direkter Nähe. Wie hast Du das erlebt und was nimmt man davon mit, wenn die Einschläge so nah an einem dran waren?
Man rechnet einfach überhaupt nicht damit. In Nizza war ja am 14. Juli das große Fest zum Nationalfeiertag auf der Promenade des Anglais. Als dann gegen 23:00 Uhr eine riesige Menschenmasse zu rennen begann, dachte ich zuerst, dass irgendwo, weil es recht windig war, ein großes Zelt durch die Gegend fliegt oder sowas in der Art. In den Tagen danach war Nizza wie in Schockstarre. Niemand auf den Straßen, am Strand, an dem sonst 3.000 bis 5.000 Menschen Baden gehen - niemand. Fast alle Geschäfte geschlossen. Eine Stadt wie im Winterschlaf, bei 32 Grad im Schatten und strahlendem Sonnenschein. In Berlin hab ich es gegenteilig empfunden.006 20200109 2004816710 Vielleicht lag es daran, dass man hier irgendwie unterbewusst immer mit einem Anschlag gerechnet hat, da es in London, Madrid, Paris ja schon passiert war. In dem Song "Weit weit weg - und ganz ganz nah" (Hinter Geranien und Gardinen) habe ich versucht, die Erlebnisse in Wort und Ton so umzusetzen und zu verarbeiten, wie ich es empfunden habe.

Trotzdem Du das erlebt und so nah erfahren hast, bist Du nicht "umgekippt". Du hast sogar einen Song wie "Falscher Feind #2" geschrieben und auf Deinem Album veröffentlicht (siehe Clip am Ende der Seite). Gibt es diesen Freund aus dem Song tatsächlich, der sich politisch so gewandelt hat und den "Feind" in den falschen Menschen meint gefunden zu haben, oder steht der Typ im Song stellvertretend für alle, die politisch heute eine andere Meinung angenommen haben, als der oft genannte "Mainstream"?
Beides. Es gibt diesen Schulfreund wirklich. Aber ich denke, es stimmt auch im Allgemeinen, weil ich glaube, dass jede und jeder von uns eine Person kennt, die sich über die Jahre, besonders aber ab 2015/16 ziemlich gewandelt hat - oder sich durch die entsprechend groß gewordene neue Partei "traut", seine oder ihre Meinung zu sagen. Und die große Frage: Wie damit umgehen?

Anders als andere Musikerkollegen haust Du nicht auf den "besorgten Bürger" verbal drauf, sondern packst das Thema von einer anderen Seite aus an. Du singst darüber, dass man gemeinsam am Tresen sitzt und forderst Dein Gegenüber auf, nochmal nachzudenken. Es wird sich quasi unterhalten statt sich gegenseitig beschimpft. In Anbetracht des Zustandes unserer Gesellschaft: Ist da ein normaler Dialog, wie Du ihn da vormacht, heute überhaupt noch möglich?
Ich denke, umgekehrt wird der berühmte Schuh daraus: Wenn man den Dialog erstmal abgebrochen hat, was bleibt uns dann noch? Sicher, es gibt den Prozentsatz an Menschen, die nicht mehr dialogfähig sind. Deren Meinung ist festgefahren und vor allem das "Gefühl" ist bestimmender als die Faktenlage. Aber es gibt eben auch einen großen Teil, der zur Zeit aus den verschiedensten Gründen eine Partei wählt, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Vor allem, weil das schlichte "gut und böse - Ost und West - schwarz und weiß"-Modell aus der Zeit des kalten Krieges nicht mehr funktioniert. Ob es damals wirklich pfiffig war und "stimmte", sei mal dahin gestellt. Um in einer komplexer werdenden Welt die Übersicht zu behalten … ja, das ist verdammt schwer. Aber sicher ist da eine - nennen wir es - "Komplexitäts-Reduktion", auf einfache Parolen und kurze Antworten genau das falsche. Nur machen halt die vielschichtigen Antworten mehr Mühe und kosten mehr Zeit. Und Zeit ist ja bekanntlich Geld - und Geld bzw. Gier spielt einfach eine viel zu große Rolle in unserem System.

007 20200109 1848375389Wenn man sowas erlebt hat, wie Du, dann macht man sich sicher auch Gedanken über die andere Seite eines solchen Anschlags, nämlich die Opfer. Sind in Dir danach auch solche Gedanken aufgekommen und hast Du sie evtl. auch in einem Lied verarbeitet?
Nein, die Seite der Opfer hab ich bisher nicht in einem Lied thematisiert. Fände ich auch zu anmaßend, da ich in dieser Rolle nicht wirklich war. Musikalisch hab ich im Outro den für mich berührendsten Moment festgehalten, den ich in Nizza am Morgen nach dem Anschlag empfunden hab. An der Stelle, an der der Laster schließlich zum Stehen gebracht wurde, befand sich eine kleine Gruppe von ca. 20 Menschen und legte die ersten Blumen und Stofftiere nieder - was im Laufe des Tages ein riesiges Blumenmeer wurde, über das auch die Medien berichteten. Alle standen fassungslos und schweigend an dieser Stelle, bis eine ältere Frau, die einen Hidschab trug, ganz leise, mit Tränen in den Augen, den Kanon "Frère Jacques" (Bruder Jakob) anstimmte. Und alle umher stehenden Personen ganz leise, oft nur summend, mitsangen. Diese Art der Solidaritätsbekundung, oder wie man es nennen mag, kam so sehr aus dem Herzen, das hat mich schon umgehauen. Deshalb ist in dem Song "Weit weit weg" auch ganz am Ende ein Glockenspiel mit jenem Kanon-Zitat zu hören.

Nun ist die CD schon über ein Jahr im Handel. Wie ist sie bisher beim Publikum angekommen und wie zufrieden bist Du mit dem Erreichten?
Ich bin sehr zufrieden. Es gab viele schöne Rezensionen, unter anderem im Rolling Stone und im Schall Magazin. Die Platte war auf der Jury-Longlist des "Preis der Deutschen Schallplattenkritik". Und (insbesondere) die Vinyl-Variante verkauft sich wunderbar. Analog, Yeah :-)

"Hinter Geranien und Gardinen" ist Dein nunmehr viertes Album. Was unterscheidet es von den drei Vorgängern? Ich - und viele unserer Leser sicher auch - kennen sie bisher leider nicht, darum würde ich mich über eine kurze Beschreibung Deinerseits sehr freuen …
Die ersten beiden Platten sind um einiges experimenteller als die letzten beiden. "Karl Neukauf - Das Album" und "Blaue Erbsen" verzichten größtenteils auf das gewohnte Band-Instrumentarium. In jener Zeit hab ich viel Gustav Mahler, Bernd Alois Zimmermann, Martin Schüttler und Leonard Bernstein gehört. Also es war alles cool, was nicht das klassische Songklischee in Struktur und Länge erfüllte. Vielmehr kommen Salzstreuer als Shaker, Küchenuhren als tickende Rhythmus-Geräte und brodelnde Kaffeemaschinen zum Einsatz. Harmonien, Kontrabass und ein alter 80er Synthi besorgen den Rest. "Neue Berliner Chansons" fand ich als Genre und Begrifflichkeit eine ganz gute "Schublade" - die man ja hierzulande irgendwie braucht. Da ich aber nicht immer wieder dieselbe Platte produzieren wollte, klang "Papperlapapp" aus dem Jahre 2015 eher "Band-mäßig" - zum Teil inspiriert von Nick Cave (Pater Noster), Bob Dylan (Katharina), Americana (Einzig & Allein) und den frühen Platten von "NEU!" (Stuck & Hohe Decken). Auch wurde es thematisch breiter gefächert. Zu den - sagen wir - "traurigen Liebeslied Trilogien" der ersten beiden Platten kamen jetzt Themen wie Gentrifizierung, Wohlstandsmelancholie und Demenz dazu.

008 20200109 1300099979Im gleichen Jahr wie "Hinter Geranien und Gardinen" sind mit den Alben "Neunzig Liter und mehr" des eben schon erwähnten Fährmann und "Was aus uns geworden ist" von André Herzberg zwei Platten erschienen, an denen Du ebenfalls aktiv beteiligt warst. War 2018 Dein arbeitsmäßig bisher aktivstes Jahr?
... und noch eine Schauspielmusik zu dem "Sommernachtstraum" am Burgtheater Dessau-Rosslau. :-) Da die meisten Aufnahme-Sessions zu "Neunzig Liter und mehr" 2017 stattfanden würde ich sagen, dass 2017 - 2019 die aktivsten Jahre (bisher) waren ...

Wie kamst Du zur Aufgabe, das Fährmann-Album zu produzieren und wo lag da für Dich das Hauptaugenmerk, ihn und seine Musik so in Szene zu setzen, wie es letztlich passiert ist?
Der Kontakt kam über unseren gemeinsamen Booker Moritz Rüdig zustande. Daraufhin trafen sich Fährmann und icke in einer Dresdener Neustadt-Raucher-Kneipe, um so grob auszuloten: Welche Songs? Wie instrumentiert? Welcher Sound? Als wir dann im Laufe des Abends eine ziemlich große Kongruenz unserer Lieblingsplatten und Künstler*Innen feststellten (Tom Waits - Mule Variations, Bob Dyan - Time out of Mind, Bruce Springsteen, Keith Richards) war schon schnell klar - das wird eine gute Zusammenarbeit.

Und wie kamen André und Du zusammen und wie sah Eure gemeinsame Arbeit aus?
Zusammen mit drei anderen Musikern (Hans Rohe (Gitarre), Alex Bayer (Kontrabass) & Achim Färber (Schlagzeug), war ich von der Gründung 2011 bis zur Auflösung im Jahre 2015 Teil des "Salonsband-Projektes". Die Idee des Projekts war, Songs von Künstler*Innen, die wir schätzen, zusammen mit ihnen in ein anderes Gewand zu gießen. Und das alles ziemlich spontan. Nachmittags wird geprobt, abends dann direkt die Aufführung. Zu Gast waren u.a. Sebastian Madsen, Danny Dziuk, Bobo, Lüül und neben 23 anderen im Februar 2015 auch André Herzberg. Das hat an jenem Abend mit André sofort gut funktioniert. Und so wollte der die nächste Platte mit jener Band aufnehmen. Aus Terminkollisionen waren dann immerhin 50% der Ursprungsband mit dabei (lacht). Und dann gab es die Aufgabenverteilung, dass Hans Rohe die Arrangements für die Band als Demos erstellt hat. Diese wurden dann im Studio 1:1 umgesetzt oder völlig über den Haufen geworfen, was schnell passieren kann, wenn eine Band in einem Raum LIVE spielt. Overdubs gab es kaum. Und ich hatte dann die schöne Aufgabe, jene Aufnahmen aus dem Recpublika Studio zu mischen.

Mit André, sowie Dirk Zöllner und Dirk Michaelis bist Du jetzt im Januar auf Tour. Zusammen mit Tobias Hillig verstärkst Du die 3HIGHligen auf der Bühne. Vermutlich hat André Dich mit dazu geholt, liege ich da richtig?
Also soweit ich weiß, war es sogar die Idee von Dirk Zöllner. Er hatte die Herzberg Band im Babylon-Berlin-Kino gesehen und war von der Nummer "Grau" ziemlich geflasht und schaute dann in die Liner Notes der Platte … Flüchtig kannte ich aber Dirk auch schon von einem gemeinsamen Festival-Auftritt zusammen mit Danny Dziuk auf Burg Schönfels im Jahre 2017.

Tobi ist ja schon seit ein paar Jahren Gitarrist. Was ist Deine Aufgabe dort und was hast Du vorher schon von diesem Projekt gewusst? Kanntest Du die 3 HIGHligen schon oder ist das für Dich völliges Neuland?
Völliges Neuland ist es nicht. Ich sah die 3 HIGHligen schonmal live, 2018 in der Kulturbrauerei. Tobi ist großartig, selten einen Musiker getroffen mit dem es vom ersten Moment an so Spaß macht, miteinander zu musizieren. Und in den Pausen eine zu rauchen … Und von unseren Spielstilen kommen wir uns sowas von gar nicht in die Quere. Traumhaft. Also ich werde, so war jedenfalls der letzte Probenstand, auf der elektrischen Gitarre etwas Roughness reinbringen, wenn Tobi zu Mick Taylorartigen Soli ansetzt, hier und da ein paar Klavierakzente setzen und ansonsten mit Cajon, Snare, Shaker und Becken für den Back-Beat sorgen.

Ihr habt schon zwei Muggen hinter Euch. Wie war das für Dich? Wie fühlte sich das an?
Einfach nur toll. Magdeburg war ausverkauft, Dessau, die wunderschöne Marienkirche, quasi ausverkauft. Standing Ovations. In Dessau gab es deshalb noch eine Zu-zugabe die weder geplant, noch geprobt war. Und eine wirklich schöne Harmonie in der Band. Auf der Bühne, davor und danach. Im Backstage wie im Tourbus. Also ich freue mich sehr auf die nächsten Konzerte. Und da die Songs zum Teil recht "frei gehalten" sind, kann es gut sein, dass die ein oder andere Nummer jeden Abend (sehr) anders klingen kann. Also miteinander musizieren im besten Sinne. Und da lohnt es sich natürlich auch mehrmals vorbei zu schauen.

Wie waren die Konzerte insgesamt? Du sprachst gerade von Standing Ovations … Wart Ihr mit Zuspruch und Reaktionen der Leute zufrieden?
Was mir schon bei meinen eigenen Konzerten aufgefallen ist - aber auch sehr auf Tour mit André Herzberg, Danny Dziuk oder Fährmann: Die Menschen im Osten - ohne jetzt ein Riesenfass aufmachen zu wollen … Ost/West … Grenzen & Mauern in den Köpfen 30 Jahre nach der Wende - hören anders zu und sind sehr oft um einiges dankbarer,010 20200109 1236244148 offener und berührter nach Konzerten. Und vor Allem: Sie zeigen und sagen es auch, wenn man danach am CD-Stand mit ihnen spricht. Diese direkte Rückmeldung ist als Musiker nicht alltäglich.

Was ist von Dir als nächstes zu erwarten? Hast Du Pläne für 2020 oder wird es noch etwas dauern, bis Du wieder ein Lebenszeichen von Dir geben wirst?
Die neue Platte ist halb fertig. Entweder im Herbst 2020 ist es soweit oder - eher wahrscheinlich - Anfang 2021. Dafür erscheint im Herbst eine neue Platte von Danny Dziuk, bei der ich mitspiele und auch ein bisschen mit produzieren darf. Im letzten Jahr war ich mit der Schauspielerin Judith Hoersch (Lena Lorenz) im Studio. Sie hat die Texte geschrieben und ich durfte diese dann vertonen und im Studio die Instrumente dazu einspielen. Das wird auch im Herbst - wenn ich schnell genug bin beim Mischen - veröffentlicht werden. Und im Sommer wird es wieder eine Schauspiel- und Theatermusik geben zu "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Ödön von Horvárd beim Burgtheatersommer auf der Wasserburg Dessau-Rosslau.

Ich wünsche Dir jedenfalls viel Spaß auf der Tour und ich hoffe, Dich auch bald mal live erleben zu können. Möchtest Du abschließend noch ein paar Worte an die Leser richten?
Ganz lieben Dank Christian für deine Zeit und das fleißige Tippen der Zeilen. Um es mit den Worten von John Lennon, Keith Richards und Horaz zu sagen: "Life is what happens while you´re busy making other plans" - "What does it mean? It means a lot!" carpe diem, carpe noctem :-)



Interview: Christian Reder
Fotos: Privatfundus Karl Neukauf, Tonia Fechter, Christian Reder, Anna Braun, Malina Ebert




Videoclip:

 





   
   
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