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Interview vom 06. Januar 2017

 

Es ist noch kein Jahr her, da haben wir uns mit Anna-Marlene Bicking über ein Finanzierungsmodell unterhalten, mit dem sie ihren Traum vom eigenen "Kunst-Pop-Album" umsetzen wollte. Um genau zu sein, war das im April 2016. Seit diesem Gespräch und dem Spendenaufruf ist eine ganze Menge Wasser die Elbe und auch den Rhein hinunter gelaufen. Das Album ist inzwischen fertig, und wird am 12. Januar bei einem Record Release Konzert der Öffentlichkeit vorgestellt. Die offizielle Veröffentlichung ist für den 20. Januar geplant. Jetzt haben wir Anna-Marlene wiedergetroffen,001 20170110 1264159720 um über die Entstehung des Albums, die Aufnahmen, die Produktion und das Endergebnis zu sprechen. Auch das Record Release Konzert und die sich anschließende Kurz-Tournee sollten Thema werden. Darüber hinaus bekam unser Kollege Christian auch noch Einblicke in andere Dinge, die die Künstlerin und ihr Werk betreffen ...



Seit unserem letzten Gespräch hat sich eine ganze Menge getan, oder?
Auf jeden Fall, das Jahr war wahnsinnig voll.

Es ging damals um die Crowdfunding-Geschichte, die ja gerade angelaufen war. Wie bewertest Du diese Sache abschließend, wie ist es gelaufen?
Das Crowdfunding war super erfolgreich. Wir erreichten fast zweihundert Prozent der angestrebten Summe. Natürlich hatte ich per Social Media viel über das Projekt gesprochen, ich machte auch ein kleines Pitch-Video dafür und vielleicht hat all das ein paar Leute überzeugt. Ich habe inzwischen die ganzen Crowdfunding-Dankeschöns raus gesendet. Also CDs, T-Shirts usw. Die Sache ist damit abgeschlossen. Ich konnte über das Crowdfunding mein Album zu 50 Prozent finanzieren, während die andere Hälfte über das Stipendium von der "Initiative Musik" zusammenkam.

Wie bist Du an dieses Stipendium herangekommen?
Das Stipendium ist offen für Musikprojekte, die einen größeren finanziellen Umfang haben und die man verständlicherweise nicht alleine stemmen kann. Man könnte auch sagen, es ist ein Stipendium für Projekte, die noch nicht einen so hohen kommerziellen Standard haben, dennoch künstlerisch fortgeschritten sind, das nötige Budget aber durch Verkäufe keinesfalls erreichen können. Es ist also eine Art staatliche Förderung von Wirtschaftsträgern. Das wird jetzt auch ausgebaut und erweitert. Es werden viele weitere Projekte gefördert, aber beispielsweise auch Clubs, die mal was Neues anbieten wollen. Dafür hatte ich mich eben beworben und es hat ja auch geklappt.

002 20170110 1502213507Aus der Gesamtmenge hast Du dann also Dein Album produziert. Du hattest damals schon angefangen, Teile davon zu produzieren, richtig?
Ja, wir hatten schon mit dem Songwriting begonnen, auch die Arrangements waren quasi fertig. Ich hatte das Album ja vorab schon am Rechner vorkonzipiert, alles einprogrammiert. Das Geld vom Crowdfunding verwendete ich dann dafür, das Album mit dem Filmorchester Babelsberg aufzunehmen und mit meiner Band ins Studio zu gehen. Das Geld brauchte ich also für die endgültige Durchführung des Projektes. Letztlich war aber alles schon frühzeitig in Sack und Tüten, weil ich über die letzten zwei Jahre an den Songs gearbeitet habe.

Du hast zwölf Songs plus Intro und Outro aufgenommen. Wann ging es richtig los damit und wann warst Du fertig?
Ich habe das nicht an einem Stück abgearbeitet, weil alles sehr vielfältig und detailliert war. In einem Song spielt mal ein Orchester, dann spielt die Band einen Teil, der Vibraphonist steuert etwas bei, auch ein Bläsertrio kam zum Einsatz, ebenso ein dreiköpfiger Chor. Und so habe ich das für jeden Song individuell gemacht, wie nach einem Baukastenprinzip. Deswegen konnten wir das nicht alles an einem einzigen Wochenende aufnehmen. Seit Juli 2016 liefen die Aufnahmen. Die letzte Aufnahme war meine Gesangsaufnahme, das war dann am 6. September 2016. Von Juli bis September nahmen wir also alles auf, aber ich hatte zwischendurch auch noch Konzerte mit meiner Band zu spielen.

Du bist aber an sämtlichen Produktionsabläufen beteiligt gewesen? Das heißt also: die Band hat aufgenommen und Du warst dabei, der Chor hat aufgenommen und Du warst dabei und auch bei den Orchesteraufnahmen warst Du dabei.
Ja genau. Das musste ich ja auch, denn die Musiker mussten instruiert und an das Projekt herangeführt werden. Mein Produzent Charis Karantzas und ich haben dabei die ganze Zeit zusammengearbeitet. Ich habe alles konzipiert und geschrieben und er war dann immer dabei. Bei den Bandaufnahmen beispielsweise war Charis der wichtigste Part, weil er sich sehr gut mit der Bedienung des Mischpultes auskannte und solche Dinge wie den Klang des Schlagzeugs verbessern konnte.003 20170110 1408799118 Am Ende hat er dann auch alles selber gemischt. Man kann also sagen, er war so etwas wie das zweite Auge, das ganz doll mit drauf geschaut hat. Ich bin mir bei so großen Produktionen immer recht unsicher und würde deshalb in solchen Größenordnungen niemals alleine arbeiten, sondern freue mich riesig, wenn ich Unterstützung bekomme.

Wo kommt Charis her?
Er kommt aus Griechenland, wohnt schon seit zehn Jahren hier, spielt selber Gitarre und macht super Produktionen, vor allem im Pop-Bereich. Auf dem Album kann man sich auch davon überzeugen, was für ein toller Gitarrist er ist.

So ein Produzent hat ja in der Regel die Eigenschaft, dass er seine eigenen Ideen und Vorstellungen mit einbringen will. Aber eigentlich ist das "Tagtraum"-Projekt ja Deins. Hat er sich in irgendeiner Form mit eingebracht, hat er Dir vielleicht den einen oder anderen Tipp gegeben, oder beschränkte sich seine Aufgabe hauptsächlich auf die des Toningenieurs?
Interessanterweise war es eine supertolle Zusammenarbeit. Charif hat sich sehr mit eingebracht, hat künstlerisch sehr viele Vorschläge gemacht und auch an den Arrangements noch einiges verändert, manches weggelassen, anderes nach seinen Erfahrungen umgeändert und beeinflusst. Aber auch solche Dinge, wie die Wahl des Studios, welches man mietet, das hat er nicht etwa vorgeschlagen, sondern einfach selber entschieden. Diese Dinge habe ich ihm auch gerne überlassen, weil ich ihm da voll vertraut habe. Wie gesagt, insgesamt war es eine hervorragende Zusammenarbeit. Was ich machen wollte, konnte ich machen, es wurde mir nichts aufgezwungen, die letzte Entscheidungsgewalt lag in der Regel bei mir. Wir entschieden uns am Ende sogar, einen Song vom Album zu streichen, weil der einfach nicht gepasst hat. Das geschah auf Charifs Initiative, darauf hat er gepocht. Von alleine hätte ich die Nummer nicht gestrichen, aber solche Entscheidungen fallen eben, wenn ein zweiter Mensch von außen oder von oben den Blick auf das Ganze hat. So objektiv kann ich selber gar nicht sein, wenn es um meine Songs geht.

Habt Ihr noch mehr Lieder produziert, die Ihr insgesamt für das Album zur Verfügung hattet, oder blieb es bei den fünfzehn, wenn man den gestrichenen Song sowie Intro und Outro dazu nimmt?
Nein, alles was wir produziert haben, ist auch auf dem Album zu finden. Wir hatten sogar noch überlegt, das Duett "Was soll aus mir werden" von Manuel Schmid und mir mit auf die Platte zu pressen. Aber das hat letztlich zu dem Tenor, der sich über die Songs und die Zeit erst entwickelt hat, also dieses Tagträumerische und diese Verbindung zwischen Elektronik, Band und Orchester, nicht mehr gepasst.004 20170110 1983309766 Auch textlich nicht. Aber solche Dinge kann man wirklich erst ganz am Ende einer Produktion entscheiden, wenn man den Überblick über das Ganze hat. Ursprünglich war es anders gedacht gewesen. Für mich war "Was soll aus mir werden" auf dem Album enthalten, aber das hat sich während der Produktionsphase eben nach und nach anders entwickelt. So habe ich auch erst im April/Mai, also kurz vor Beginn der Aufnahmen im Studio, die letzten Songs geschrieben.

Zwischen Theorie und Praxis klafft ja oft eine Riesenlücke. So wird es wahrscheinlich auch beim Komponieren und Aufnehmen sein. Wie haben sich diese Teile, die in Deinen Songs enthalten sind, also Pop, Klassik, Elektronik und Chor miteinander verbinden lassen? Ging Euch das relativ einfach von der Hand, oder gab es Probleme?
Genau das hätte ich eben niemals alleine machen können. In meinem kleinen Kopf hat im Entwurf und später dann aufnahmetechnisch alles zusammengepasst. Aber letztlich ist genau das die Arbeit eines Sounddesigners, das Ganze irgendwie zusammenzufügen. Ein Beispiel dafür: Das Orchester im Titel "Oben bei den Sternen" mit dem Elektrobeat zu verbinden, war meine Idee, bei der Umsetzung brauchte ich aber Hilfe. Auch sonst gab es eine Menge zu beachten. So mussten wir oftmals die Band mal lauter, mal leiser abmischen. Oder das Orchester ... Wenn das in einem Song mitspielte, war es natürlich der Hauptbestandteil dieses Songs, darauf musste geachtet werden. Oder wir mussten hier und da die elektronischen Aspekte total reduzieren, sonst hätte das alles andere in dem Lied zerstört. All diese Dinge haben größtenteils im Rahmen des Sounddesigns andere Leute mitentschieden, denn es wäre für mich allein unmöglich und viel zu schwer gewesen, bei einem so großen Projekt mit so vielen unterschiedlichen Elementen die nötige Objektivität zu wahren und alles so abzustimmen, dass es am Ende ein runder Guss ist. Es ist ja auch wirklich ein sehr variantenreiches Album geworden, auf dem kein Song wie der andere ist. Viele Leute haben reingehört und selbst mein Master sagte nach Abschluss der Produktion: "Ja, es ist unglaublich unterschiedlich, sehr viele Elemente treffen aufeinander, aber man hört, dass ein einziger Komponist dafür verantwortlich ist, dass es nur eine Handschrift gibt". Das war für mich natürlich ein wunderbares Kompliment.

War es für Dich das erste Mal, dass Du mit so einem großen Orchester zusammengearbeitet hast?
Wenn Du damit meinst, dass ich das in Eigenregie gemacht habe, dass ich den ganzen Tag vor ihnen stand und mit ihnen gearbeitet habe, dann war es das erste Mal. Ich muss gestehen, das war eine Riesenerfahrung für mich. Natürlich war ich sehr aufgeregt und wollte alles richtig machen. Deshalb hatte ich meinen Orchestrator Alin Oprea dabei, mit dem ich zusammen Filmmusik studiere. Der ist schon sehr sicher im Umgang mit einem Orchester, so dass er mir wirklich in manchen Dingen eine große Hilfe war. Alin warf nochmal einen Blick auf die Noten, er machte viele Ansagen, wie was gespielt werden soll, denn er hört manche Sachen besser als ich heraus. Das war ein ganz wichtiger Baustein in dem ganzen Projekt. Du merkst, mein Erfahrungsreichtum mit einem Orchester ist noch nicht so riesengroß. Aber ich wollte ins kalte Wasser springen und diese Dinge lernen. Durch mein Studium hatte ich das Filmorchester vorher allerdings schon kennengelernt. Wenn man aber seine eigene CD produziert und pro Tag so um die sieben, acht Stücke aufnimmt, dann ist das nochmal eine ganz andere Hausnummer.

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Bitte erzähle uns etwas mehr über das Album an sich. Wie ist es zusammengestellt, welche Strukturen sind erkennbar, was hast Du Dir dabei gedacht?
Die Sortierung der Songs hat sich eigentlich erst im Nachhinein ergeben. Also eben noch nicht während der Erstellung des Album-Konzeptes, sondern erst, als wir das fertige Material zur Verfügung hatten. Die These zum Album ist die, dass es um den Tagtraum geht. Damit ist gemeint, dass das einzelne Individuum seine Wünsche und Ziele tagsüber in seinen Träumen sieht und vielleicht nochmal neu definiert. Das ist quasi das Intro "Tagtraum". Dazu kommen "Oben bei den Sternen" und "Die Frage (Interlude)" - das sind die ersten drei Songs, die einen ziemlich verträumten, epischen und weiten Klang initiieren und eine Art phantastische Ebene aufwerfen. Aber das Album geht ja nicht in dieser Art weiter, denn danach wird ja total mit dem gebrochen, was bisher zu hören war. Nach den letzten Klängen des instrumentalen Interludes geht der Mittelteil des Albums los, wo mehrere Songs nacheinander abgeliefert werden, die nun überhaupt nicht mehr zu dem träumerischen Intro passen.

Was willst Du damit zum Ausdruck bringen?
Damit soll dann auch wirklich das echte Leben gemeint sein. Das Leben wirft Fragen auf, erzeugt Probleme, man wird also aus seinen Träumen herausgerissen. Genau das passiert mit dem nächsten Titel "Arrogant", der ja eine reine Popnummer ist. Also man darf das ungefähr so verstehen: man startet seinen Tag, ist noch in schönen Träumen versunken, und plötzlich wirft einen das Leben aus seinen Träumen raus. Ein weiterer Song ist z.B. "Schneider Wim". Darin geht es um eine Liebe, die im Laufe des Lebens verblasst ist, die nicht mehr funktioniert. Das sind eben solche Dinge, die im richtigen Leben passieren. Die Inspirationen zum Schreiben solcher Texte habe ich zum einen aus eigenem Erleben, aber auch vielfach auch aus meiner Umgebung erhalten. Danach kommt "Zwanzig Tage".006 20170110 1954047698 Das ist ein ganz langer episch angehauchter Song, der sich nach und nach aufbaut und in einer orchestralen und rockbandartigen Geschichte kulminiert. Meine musikalische Inspiration für diesen Song waren diese alten ProgRock- und Classic Rockbands. Textlich geht es auch hier wieder um eine unerfüllte Liebe, die zwanzig Tage dauert und dann einfach endet. Es werden in den Songs also wirklich vorkommende Situationen und Geschehnisse des realen Lebens besprochen bzw. besungen. Das ist der entscheidende Unterschied zum ersten Teil des Albums, dem Tagtraum. Der folgende Song "Nicht hip" fällt dann wieder total aus der Bahn, weil er völlig anders ist als seine Vorgänger. Mit seinem elektronischen und sehr rockigen, fast schon am NDW orientierten Vibe fördert er eine Art trotzige Haltung des Individuums zutage. Als würde man sagen: Dann bin ich eben nicht wie ihr, dann bin ich halt "Nicht hip". Es geht weiter mit "Wir sind", wo es um eine Abrechnung mit der Kindheit geht und dem Song "Alptraum", der wirklich so klingt, wie ich mir einen Alptraum immer vorgestellt habe. Ich finde das Lied irgendwie gruselig, undefiniert. Es tuckert so vor sich hin, in der Mitte passiert dann plötzlich etwas, man weiß aber irgendwie nie, ist das nun real oder nicht. Also ein echter Alptraum. Danach muss dann aber wieder etwas kommen, was diese ganzen Aktivitäten, die vorher passiert und einfach Probleme unseres Lebens sind, verändern bzw. zum Guten wenden. Dafür steht der Song "Zeit". Da soll gesagt werden, ich brauche mehr Zeit, um alles zu verarbeiten, brauche Zeit für eine neue Chance, Zeit um wieder mehr ich selbst zu sein. Das Sprichwort "Kommt Zeit, kommt Rat", würde hier auch gut passen. Das Lied klingt auch wirklich schön und wurde sicher nicht zufällig von vielen Leuten, die das Album gehört haben, als eine Art Lieblingssong genannt. Mir liegt das Thema sehr am Herzen, denn wir haben in unserer heutigen Gesellschaft ja überhaupt keine Ahnung mehr davon, was Zeit eigentlich ist. Alles muss schnell gehen, Social Media ist maßgebend, wir denken nicht mehr langfristig. Wenn sich der Erfolg nicht gleich in der ersten Chartwoche einstellt, wird alles gleich wieder totgeredet usw. Das gilt aber nicht nur für die Musik, sondern das kann man auf alle Berufsgruppen ausweiten. Es ist schon Wahnsinn, wie das Internet unser Leben verändert hat. Deshalb mein dringender Wunsch nach mehr Zeit, nach einem zweiten Leben, nach einer neuen Chance.

Das war der Mittelteil, aber damit ist ja das Album noch nicht zu Ende.
Richtig. Mit "Oben (Reprise)" wird das Album quasi erneut unterbrochen. In der Reprise werden bestimmte musikalische Motive immer wieder verwendet. Diese Idee, so etwas zu machen, fand ich schon immer spannend. Hier wird das Thema von "Oben bei den Sternen" vom Anfang der Platte wieder aufgenommen. Es ist erneut ein episch-orchestraler Klang vernehmbar, der eine Art surreale Phase einleitet und dafür sorgt, dass man wieder ein bisschen in diese Tagträume rein findet, das Ganze mit den letzten Songs aber auch bewertet und reflektiert.007 20170110 2040495781 Die dazugehörigen Nummern "Vorbei" und "Listen to your heart" stechen beinahe schon durch eine Art Leere hervor. Wie gehe ich mit all dem um? Wie kann ich meine Ziele vervollständigen? Was kann ich tun, um anderen nicht zu schaden, aber trotzdem meine Träume zu verwirklichen? Was kann ich tun, um ich selbst zu sein? In "Listen to your heart", was übrigens einen deutschen Text hat, geht es um die Frage, was kommt am Ende des Lebens bzw. danach? Bin ich dann glücklich? Habe ich es geschafft, meine Träume zu verwirklichen? Das sind die Dinge, die im letzten Teil des Albums passieren. Für "Vorbei" bin ich textlich einen anderen Weg gegangen, denn da habe ich mir ein politisches Statement im weitesten Sinne überlegt. Was passiert auf der Welt? Andere Menschen haben es längst nicht so gut wie wir, viele können ihre Träume nicht mal ansatzweise verwirklichen. Wir laufen vorbei an Kriegen, die in anderen Ländern passieren. Über solche Dinge sollten wir mehr nachdenken. Das klingt jetzt alles ein wenig pauschal und vereinfacht, aber im Song selber machen diese Gedanken durchaus Sinn. Auch musikalisch geht der Song total in sich auf und entwickelt sich ins Unermessliche. Das soll insgesamt gesehen der Tenor meines Albums sein. Ich wünsche mir, dass man das Album hört und anfängt, ein bisschen über sich selber nachzudenken. Dass man sich selber erkennt in dem Tagtraum, sich aber auch in dem bunten Aquarium des Lebens verliert, welches in den komplexen Arrangements der Songs enthalten ist. Am Ende ist man dann vielleicht in der Lage, sich selbst besser oder mehr zu reflektieren als bisher. Vielleicht sagt man sich ja dann, ich würde gerne noch dieses oder jenes Ziel erreichen, oder ich hätte bestimmte Dinge besser nicht tun sollen. Das sind die Ideen, die hinter dem Album stecken. Das war nicht von vornherein so konzipiert, sondern es ist im Laufe der Arbeit so geworden. Ich glaube auch nicht, dass es ein Album zum Nebenbeihören geworden ist, dafür stecken zu viele Informationen drin. Also entweder man hört es konsequent nebenher, macht dabei etwas völlig anderes und lässt sich überhaupt nicht auf die Texte ein. Das wäre für mich okay. Aber ich denke, das Beste, was man sich antun kann, ist das Einlassen auf diesen Tagtraum, um am Ende der CD festzustellen, ich habe für mich selber erkannt, was noch alles möglich ist. So haben auch viele Menschen die CD beurteilt. Es ist eben ein Gesamtwerk geworden, was nicht funktioniert, wenn man die Songs im Shuffle-Modus hört oder heute ein Lied, morgen das Nächste, sondern man sollte es als Ganzes aufnehmen und auf sich wirken lassen.

Sagen wir es mal so: es ist wie ein Film und einen Film beginnst Du auch nicht in der Mitte zu gucken, sondern Du fängst vorne an. Mit Deinen Themen und der vorgenommenen Dreiteilung der Songs hast Du quasi einen Film für den Kopf inklusive Soundtrack geschaffen.
Ganz genau, Du hast es auf den Punkt gebracht. Das Album ist ja tatsächlich an einen Film angelehnt. Ich habe mich gefragt, wie kann man beim Musikhören mehr Bilder im Kopf schaffen? Das geht, wenn das Ganze filmisch aufbaut ist. So sollte man das Album auch genießen, sich also gemütlich hinsetzen und sich die Tracks von vorne bis hinten anhören. Man muss es natürlich nicht, aber es wäre meine Empfehlung.

008 20170110 1079532293Das Ganze ist ja jetzt nicht nur musikalisch ziemlich komplex geworden, sondern auch inhaltlich. Du bist ja nicht auf irgendetwas Spezielles konzentriert, guckst stattdessen über den Tellerrand hinaus und entwickelst einen bestimmten Weitblick. Bist Du als Mensch auch eher so nachdenklich und beobachtend? Oder wie sonst kommt eine junge Frau wie Du auf ein solches Album mit derart vielen unterschiedlichen Themen?
Ich würde schon sagen, dass ich wahnsinnig selbstreflektierend bin. Und ja, ich denke viel darüber nach, wie ich wirke, was ich möchte und wie ich mich gegenüber anderen Menschen verhalte, wie ich das möglicherweise noch alles verbessern kann. Interaktion zwischen den Menschen ist durchaus mein Thema und ich stelle fest, dass ich da auch immer wieder kleine Fortschritte mache. Klar, ich bin kein negativer Typ, bin nicht depressiv und muss nicht alles auseinandernehmen, um über den Sinn dessen nachzudenken. Bei mir ist das Glas nicht halbleer, sondern wirklich immer halbvoll. Ich versuche für mich alles besser zu machen. Und da habe ich sehr viel Reflektionen, wenn ich sehe, was tagsüber in meinem Kopf so abgeht. Es ist bei mir tatsächlich so, dass ich diese Tagträume schon als Kind wahnsinnig stark verspürt habe. Meine Eltern erzählen mir oft, ich war bereits in jungen Jahren unglaublich kreativ, ich habe mir Gedichte oder ganze Bücher ausgedacht. Bei mir lief immer so eine fiktive Person im Hintergrund mit, was ja sicher auch viele andere Kinder kennen werden. Dadurch konnte ich viel in anderen Welten und Phantasie-Ecken unterwegs sein. Diese ausgeprägten Phantasien habe ich mir bis heute erhalten. Aber wie gesagt, das tendiert alles in die positive Richtung. Ich könnte niemals depressiv sein, bin auch nur ganz selten mal richtig traurig, weil ich es immer wieder hinkriege, positiv und sonnig aus solchen Momenten rauszugehen.

Man kann ja letztlich sogar das Cover als eine Art Tagtraum bezeichnen. Es ist ziemlich mystisch gestaltet. Wer hat das gemacht und welche Idee steckt dahinter?
Das ganze Setting des Albums fühlt sich für mich an wie ein Wald und ganz viel Natur, denn in der Natur findet man schlicht und einfach die Wahrheit. Ich ziehe mich auch in den Wald zurück, wenn ich jogge. Da kann ich meine Gedanken im Kopf sammeln und umwälzen. Und diese Farbspiele auf dem Cover stellen eine Mischung aus Realität und Surrealität dar.009 20170110 1959584303 So als ob sich unsere Realität verfärbt. Ich habe eine tolle Illustratorin, die auch mein Musikvideo zu "Oben bei den Sternen" mitgestaltet hat, das ist Sandra Thieme. Sandra hat sehr viel Visuelles für das Album gemacht, hat viel gezeichnet und ist eben auch für die Gestaltung des Covers verantwortlich. Ich sagte Sandra, ich wollte etwas mit einem Wald haben und es sollte die Vermischung von Wirklichkeit und Phantasie erkennbar sein. Es war also eine sehr abstrakte Aufgabe. Das ging dann sehr schnell in eine Richtung, die mir gefiel und wo ich mir vorstellen konnte, dass es sich genauso in einem Tagtraum abspielen könnte.

Wenn man so ein großes Werk fertiggestellt hat, will man es ja möglichst auch detailgetreu auf die Bühne bringen. Das dürfte allerdings mit dem Filmorchester schwierig werden. Wie wird das Record Release Konzert aussehen? Wie wirst Du diese Songs präsentieren?
Wir haben gerade die letzten Tage nochmal geprobt und festgestellt, es ist echt viel Material, was wir haben. Ich habe eine ganz tolle Band, mit deren Musikern ich schon ganz lange zusammenarbeite. Auf der Bühne sind wir sechs Leute. Dazu kommt noch eine Geigerin, die das Bindeglied zwischen Orchester und Band sein wird. Die Band spielt natürlich alles live und auch die elektronischen Teile werden soweit es geht von der Band übernommen. Aber weil ich das natürlich nicht realisieren kann, in kleinen Clubs das Orchester mit auf die Bühne zu bringen, werde ich das Orchester im Hintergrund einspielen. Wir wollen also möglichst viele Sounds von der CD, egal ob es nun um das Orchester geht oder um bestimmte elektronische Teile, in unsere Liveparts einbauen und mitlaufen lassen. Und wir wollen als Band absolut selbstgestalterisch auftreten, manches sogar anders machen. Es war uns auf jeden Fall wichtig, dass das Orchester bei den Liveauftritten in irgendeiner Form dabei ist. Unsere Geigerin spielt die ganzen Linien mit. Wir haben jedenfalls gestern bei den Proben festgestellt, das wird ein supertolles Programm. Ich binde auch noch ein paar neue Details mit ein. Zum Beispiel mache ich beim Song "Oben (Reprise)" eine kleine Meditation mit dem Publikum. Die Band spielt dazu im Hintergrund, plötzlich kommt noch das Orchester wie aus dem Nichts dazu ... Es soll wirklich auch auf der Bühne wie ein Film wirken. Unser Konzert umspannt einen großen Bogen und lädt meiner Meinung nach dazu ein, diesen ganzen Tagtraum wie einen kompletten Film mitzuerleben.

010plakEs gibt bisher vier Termine, stimmt das?
Ja, das ist richtig. Unser erster großer Termin, nämlich die Record Release Party, wird in Berlin stattfinden. Darauf freuen wir uns riesig, zumal die WABE eine tolle Location ist. Ich hätte ja gerne noch ein paar mehr Termine gemacht, aber es ist ja so, dass meine Musiker allesamt Profis sind, die ihr Geld mit Musikmachen verdienen. Und in so kleinen Clubs hält sich das eben in Grenzen. Man kennt mich halt auch noch nicht, ich bin eine Newcomerin. Und dieses Projekt nun wirklich in jeder größeren Stadt an den Mann zu bringen, war sehr schwierig. Dazu kommt, wir sind mit sechs Leuten natürlich auch ziemlich groß besetzt und haben viel Technik dabei. Mein Schlagzeuger zum Beispiel spielt gleichzeitig Schlagzeug, Glockenspiel und ein Electronic Pad. Der macht gefühlte fünf Sachen auf einmal. Diesen Aufwand immer wieder live in Clubs umzusetzen, ist natürlich schwer. Ich bemühe mich auf jeden Fall, für das Jahr 2017 noch einige Termine an Land zu ziehen. Im Sommer findet z.B. ein Kunst-Open Air in Zinnowitz (Usedom) statt,011 20170110 1886692395 bei dem wir dabei sind. Vielleicht ergibt sich ja noch auf einem Festival eine Auftrittsmöglichkeit, oder wir machen eventuell noch eine weitere kleine Clubtour. Für den Anfang haben wir uns jedenfalls für die nächstliegenden Städte und Termine entschieden, damit das auch logistisch alles zu meistern ist.

Dafür drücke ich Dir die Daumen.
Dankeschön. Natürlich weiß ich, dass das Thema ein schwieriges ist. Mit Mainstream hat das überhaupt nichts zu tun. Darum ging es mir auch gar nicht. Erfolg zu haben oder irgend solchen Mist war gar nicht mein Ziel, sondern ich bin für den Moment happy, dass das Album so gut geworden ist. Ich bin für mich selber zufrieden mit dem, was wir da gemacht haben. Auf den Proben freue ich mich jedes Mal, wie gut das live mit der Band klingt. Was am Ende unterm Strich dabei herauskommen wird, da bin völlig offen. Ich hoffe natürlich, dass es den Menschen gefällt. Aber ob es nun medial ein Riesending wird, das weiß ich nicht, bin da aber auch total entspannt und offen.



Interview: Christian Reder
Bearbeitung: tormey, cr
Fotos: Archiv Anna-Marlene Bicking, Archiv Deutsche Mugge




   
   
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