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Interview vom 19. November 2016



In den vergangenen Jahren haben wir schon viele Interviews mit Musikern geführt, die zu Zeiten der DDR beim Rundfunk ihre ersten (manche auch ihre einzigen) Songs produziert haben. Immer wieder fiel in dem Zusammenhang der Name Luise Mirsch, und immer wieder sprach man von ihr in den höchsten Tönen. Manch ein Musikant wusste zu berichten, dass ohne ihre Hilfe manches gar nicht möglich gewesen wäre.001 20161119 1015061320 Bei einem Blick in ihre Vita sind dann auch Lieder zu finden, die sie produziert hat und aus denen inzwischen Evergreens und Volkslieder geworden sind, die sogar heute noch in so manchem Rundfunkprogramm gespielt werden. Obwohl ihr Name noch oft genannt wird und sie beim Rundfunk der DDR knapp 20 Jahre als Produzentin tätig war, weiß man über sie doch nicht wirklich viel. Auf Wunsch diverser Musiker, Leser und nicht zuletzt auch von uns selbst haben wir die inzwischen im Ruhestand befindliche Produzentin besucht und ein Interview mit ihr geführt, das Ihr jetzt in voller Länge hier nachlesen könnt ...




Hallo Frau Mirsch, schön, dass Sie Zeit für uns haben. Wie geht es Ihnen?
Danke, ganz gut. Ich habe gerade in Leipzig angerufen, wo am 13. Januar die Gruppe KARUSSELL ihr 40-jähriges Bestehen feiern wird. Ich bin ja der Alt-Produzent von KARUSSELL, deshalb wollen wir da natürlich gerne dabei sein.

Unter dem Titel "Musikanten gefragt" haben Sie in den 70er Jahren zahlreiche Musiker interviewt. Heute sitzen Sie bei diesem Gespräch auf der anderen Seite. Auf welcher Seite ist es Ihnen lieber - auf der des Fragenstellers oder auf der Seite des Befragten?
(lacht) Ich habe mich als Fragensteller durchaus wohl gefühlt, denn ich habe zwar auch Instrumente spielen gelernt, bin trotzdem kein ausgebildeter Musiker. Hinter mir liegt aber ein Musikwissenschaftsstudium, weil mich das Wie und Was des Zustandekommens von Musik schon immer sehr interessiert hat.

Wie haben Sie sich früher eigentlich auf diese Interviews vorbereitet? Uns macht ja heute das Internet vieles leichter, aber das gab es bekanntlich damals noch nicht.
Das ging früher immer mit einem Stapel LPs. Ich muss dazu sagen, wir waren die Ersten, die sich an ein solches Format gewagt haben, denn es hieß ja immer, Rockmusiker können nicht reden. Das war nicht nur eine damals übliche Floskel, sondern das stimmte manchmal wirklich. Aber ich brachte sogar solche wortkargen Musiker wie den Posaunisten Conny Bauer zum Reden. Mit der Musik selber öffnet man sozusagen Türen. Jeder hat etwas dazu zu sagen, weil es ihn auch beschäftigt.002 20161119 1184826629 Deshalb passierte es mir nie, dass jemand im Interview überhaupt keine Auskunft geben konnte. Ich setzte mich vorher mit den Musikern zusammen, wir machten eine Liste mit der Musik, die gespielt werden sollte, und die Musiker brachten dann die jeweiligen Platten mit. Meistens durfte ich die Platten sogar behalten, wodurch ich natürlich auch immer wieder viel Neues kennenlernte. Es war immer eine sehr interessante Sache.

Von wann bis wann lief diese Reihe?
Wir liefen eigentlich bis Mitte der 80er Jahre. Anfangs hatten wir 90 Minuten Sendezeit, später dann nur noch 45 Minuten. Die Sendung wurde beim Kultursender des DDR-Rundfunks ausgestrahlt, der Sender hieß "Radio DDR II". Wir waren also inmitten von Klassik und Moderne angesiedelt und ich fand, dass ich dort einen guten Platz gefunden hatte, wo man auch mal ein bisschen in die Tiefe gehen konnte.

Zu dieser Sendung gab es auch einen besonderen Vorspann, also eine besondere Musik. Was hatte es damit auf sich?
Ich weiß gar nicht mehr wie ich dazu gekommen bin, dieses Stück auszusuchen. Vielleicht sogar mit der Redakteurin dieser Sendung, meiner Schwester Hanni Bode, die auf dem Volksmusik- und Weltmusik-Sektor recht bekannt ist. Wir hatten das Stück als sehr aufmunternd empfunden. Es war eines meiner ersten Produktionen Ende der 60er, zu der Zeit, als ich auch mit dem Günther Fischer Quartett anfing zu arbeiten. Ich hatte damals den Pianisten Ulrich Gumpert, Schlagzeuger "Baby" Sommer und zwei weitere Musiker in einer Quartett-Besetzung im Studio und es dort aufgenommen. Das Stück heißt "High Heel Sneakers". Ich finde, dass das mordsmäßig losgeht und ich höre das bis auf den heutigen Tag sehr gerne.

In den letzten Jahren bekamen wir sehr viele Anfragen geschickt, ob wir Sie nicht mal für ein Interview einladen könnten. Es besteht also nach wie vor großes Interesse an Ihrer Person und an Ihrer Arbeit. Überrascht Sie das?
Ja, schon. Man muss sich da ein Stück weit selber schützen, damit man nicht verzweifelt, denn wir Rundfunkproduzenten merken heute, dass wir so eine Art hinteres Ende darstellen. Die Musiker reden meistens erst dann, wenn Sie eine Platte bzw. eine CD oder ein Video in der Hand halten. Dabei war früher für fast alle Künstler und Bands eine Rundfunkproduktion der Beginn ihrer Karriere.003 20161119 1591487256 Manche sind uns auch wirklich sehr lange treu geblieben und haben trotz Plattenproduktionen auch weiterhin beim Rundfunk produziert. Man darf auch nicht vergessen, dass die Platte vielfach Produktionen vom Rundfunk übernommen hat. Ganze Alben sind im Rundfunkstudio entstanden und kamen dann auf LP oder CD raus. Der Rundfunk war also einer der Hauptproduzenten für Musik in der DDR. Das wird leider im Allgemeinen gerne verschwiegen, weil so etwas ja international gar nicht üblich war und ist. Natürlich freue ich mich umso mehr, wenn ich höre, dass von mir noch ein paar Funken in dem einen oder anderen Musiker glühen.

Sie haben gerade den Namen KARUSSELL erwähnt und werden bei deren Jubiläum also auch dabei sein. Haben Sie ansonsten noch irgendwelche Kontakte zu ihren ehemaligen Schützlingen?
Ja klar. Zum Beispiel habe ich gute Kontakte zu Bernd Aust von ELECTRA und Werther Lohse von LIFT. Auch zu bestimmten Textern oder Sängerinnen besteht noch Verbindung. Mir fallen da Ingeburg Branoner oder Katrin Lindner ein. Mit Dirk Michaelis, den ich sehr mag, verbindet mich auch einiges. Natürlich ist das inzwischen alles ein bisschen eingeschränkter als früher, aber ich gehe auch durchaus selber noch auf manche Konzerte und treffe dort ehemalige Kollegen und Musiker. Wenn man sich sieht, gibt es immer ein großes Hallo.

Wenn so viele Leute immer nur Gutes über Sie sagen, drängt sich natürlich die Frage auf, ob es auch Leute gab, die heute möglicherweise nicht mehr so gut auf Sie zu sprechen sind?
Eigentlich nicht. Die Leute, mit denen ich gearbeitet habe, habe ich mir immer sorgfältig ausgesucht. An Probebändern, die wir vorher bekamen, musste mich schon irgendetwas interessieren. Es gab da für mich keine großen Überraschungen und für die Musiker dann auch nicht. Ich bin auch zu allen möglichen Veranstaltungen gefahren. Es gab da z.B. die Arbeiterfestspiele, wo die Jugend mit ihrer Musik einen festen Platz hatte. Außerdem gab es die Werkstattwoche der FDJ, die zunächst in Frankfurt/Oder stattfand und die dann nach Suhl umgezogen ist. Suhl bot überhaupt erst die Möglichkeit, neue Leute zu entdecken. Dort stellten sich neue Künstler mit ihren Programmen vor, die im Idealfall prämiert wurden. Ich saß dort mit in der Jury und gab mein Urteil ab. Ganz wichtig war in Suhl ein bestimmter Musikklub, wo Leute auftraten, die tolle Musik machten, auf die aber noch niemand aufmerksam geworden war. Eine der freudigsten Entdeckungen, die ich dort machte, war die Band REGGAE PLAY aus Magdeburg. An denen hatte ich wirklich viel Spaß.

Bei meiner Recherche stellte ich fest, dass Sie offensichtlich die erste Musikproduzentin Deutschlands waren. Ich habe vor Ihrem Einstieg 1968 keine andere Frau finden können, die diese Tätigkeit ausgeübt hat. Wissen Sie da mehr?
Das ist durchaus so. Sie müssen sich das so vorstellen: Der Rundfunk zerfiel schon bei seiner Gründung in zwei Teile, nämlich in die inhaltliche Seite und in die technische Seite. Die technische Seite war die Deutsche Post, während die inhaltliche Seite mit dem Tonregisseur begann. Das war der Tonmeister, der ein Hochschulstudium in Musik und Elektronik hinter sich hatte. Es saß aber zusätzlich immer noch ein Toningenieur dabei, der eigentlich zur Deutschen Post gehörte.004 20161119 1478030053 Da gab es natürlich ein ständiges Hin und Her und einige Konflikte. Aber da ich zum Sektor Tanzmusik gehörte und mich mit den beginnenden Rockaufnahmen beschäftigt hatte, waren das in der Regel junge Leute, die sich an und neben die Mischpulte setzten und zu denen ich sehr schnell Kontakt fand. Es war normalerweise nicht üblich, dass der Auftrag gebende Redakteur eines Senders an der Produktion der Musik teilnimmt, sondern die Verantwortung lag bei den Tonmeistern, die ihre Aufnahmen nach Fertigstellung abzuliefern hatten. Ich hatte es mit einem sehr guten Tanzmusik-Redakteur zu tun, von dem ich viel gelernt habe. Der wiederum begann dann Jazzrock zu produzieren und schickte mich eines Tages dahin, damit ich mir mal selber ein Bild davon mache, was dort so passiert. Das habe ich gemacht und es gefiel mir sehr gut dabei zu sein, wenn Musik entsteht. Also habe ich versucht, das zu meiner speziellen Ausprägung zu machen. Da auch niemand etwas dagegen hatte, dass ein Redakteur während der Aufnahmen dabei saß, war ich eben von diesem Zeitpunkt an von der ersten Idee bis zum fertigen Musikstück immer dabei. So kam ich zu der Tätigkeit der Produzentin. Da wir ja ab 1968/69 vermehrt Rockmusik produziert haben, kamen natürlich auch von den anderen Sendern noch Leute dazu wie z.B. Claudia Ninnig vom Deutschlandradio oder Manfred Gustavus vom Berliner Rundfunk. Es stießen auch jede Menge junge Leute zu uns wie Walter Cikan. In der Folge entwickelte sich "Radio DDR I" zum ersten Sender, der eine eigene Produktionsabteilung aufmachte. Das müsste 1970 der Fall gewesen sein. Und seit 1973 gab es eine sogenannte Hauptabteilung für Musikproduktionen beim Rundfunk. Die Tanzmusik war dabei eine eigene Sparte, bevor wir uns 1986 mit der Jugendmusik nochmals abspalteten. Wir hatten sogar ein eigenes Studio, sozusagen ein Inselstudio. Inselstudio deshalb, weil es nicht wie sonst üblich in der Nalepastraße beheimatet war, sondern auf einem Gelände lag, welches BP gehörte. Und obwohl dieses Gelände nach dem Mauerfall wieder an BP zurückging, durften wir unser Studio noch ein paar Jahre weiternutzen. Man kann also festhalten, mit der Zeit verselbstständigten sich beim Rundfunk die Musikproduktionen.

Werfen wir mal einen Blick auf Ihren Werdegang. Wenn ich das laut sagen darf: Sie sind 1939 geboren. In den Fünfzigern waren Sie also ein Teenager. Haben Sie sich damals schon für Musik interessiert? Wenn ja, für welche? Rock und Beat gab es ja seinerzeit in unseren Breitengraden noch nicht.
Na ja, woanders gab es den Beat und Rock aber auch noch nicht. Was es aber dann bald gab, war der Rock'n'Roll. Damit fing ja alles an. Ich wurde auf Usedom groß und ging in Heringsdorf zur Schule. Die dortige Oberschule war eine sehr gute. Dort gab es u.a. sogenannte Ensembles mit kleinen Orchestergruppen, mit Chören, kleinen Sprechergruppen usw. Wer so wie ich Lust darauf hatte, konnte auch gerne überall mitmischen. Natürlich ging ich auch gerne tanzen, denn Tanzveranstaltungen gab es genügend. Und wenn man gerne tanzt, hört man auch die Tanzmusik, die zur damaligen Zeit gemacht wurde. Auf Usedom existierten zum einen Kurkapellen, aber es gab auch richtige Tanzlokale, die ihre festen Quintetts oder Quartetts hatten. Eins dieser Tanzlokale befand sich in Koserow, wo wiederum im "Vineta" ein Quintett aus Leipzig fest angestellt war. Dort konnte ich alles hören, was tanzbar war, was mich trotz meiner eigentlich klassischen Ausbildung sehr interessierte, weil ich eben so gerne tanzte.

005 20161119 1368025777Sie sagten, Sie haben eine klassische Ausbildung genossen. Welche Instrumente lernten Sie während dieser Zeit?
Ich habe Klavierunterricht gehabt, lernte aber auch Flöte spielen. Klavier war das Klassische, was man eben so lernte. Aber bei meinem Flötenlehrer lernte ich die Barockmusik kennen, was für die spätere Rockmusik eigentlich sehr viel wichtiger war. Dort betrieben wir auch das Ensemblespiel, spielten u.a. in Blockflötenquartetten zusammen, was dazu führte, dass ich eine relativ gute Blockflöte spielen konnte.

Der Beruf der Musikerin kam für Sie aber nicht in Frage?
Nein, ich dachte mehr in Richtung Wort, also an Sprecherziehung oder Schauspielerei. Letztlich fuhr ich aber doch zur Eignungsprüfung für Musikwissenschaftler und spielte dort sowohl etwas am Klavier als auch an der Flöte vor. Man wurde daraufhin geprüft, ob man Akkorde hört und einigermaßen musikalisch ist. Ich bestand die Prüfung und kam auf diese Weise zu einer Ausbildung in praktischer Musik bei den Musikerziehern, die zwei Jahre dauerte. Anschließend wurden noch drei weitere Jahre Theorie beim Musikwissenschaftlichen Seminar draufgepackt.
 
Ich habe gelesen, dass Sie 1958 an die Berliner Humboldt-Universität gegangen sind, um Musikwissenschaften zu studieren.
Genau. Das erzählte ich eben, das fiel in diese zwei Jahre praktische Musikausbildung rein. Und hinter kamen die drei Jahre Musikgeschichte und Theorie.

Was war denn in dieser Zeit Ihr Berufsziel?
Ich wollte zum Rundfunk. Ich nahm Theaterwissenschaft als zweites Fach, absolvierte zwei Praktika bei der Staatsoper in Berlin, was mir so gut gefiel, dass ich im Anschluss eigentlich Dramaturg werden wollte. In diese Zeit, dass muss ich unbedingt noch erzählen, fielen in Westberlin diese großen Jazzveranstaltungen unter dem Namen "Jazz at the Philharmonic". Die Grenzen nach Westberlin waren ja noch offen, so dass ich gemeinsam mit ein paar weiteren Studenten der Musikwissenschaft pausenlos zu Jazzkonzerten gelaufen bin. Dort habe ich mir im Laufe der Zeit mein großes klassisches Jazzrepertoire und Jazzwissen angeschafft, weil dort alle Größen des Jazz spielten. Das war sehr interessant.

006 20161119 1177880280Wie konnten Sie sich dann nach dem Bau der Mauer weiterinformieren?
Durch ganz viel Radio hören und durch Schallplatten. In den 80er Jahren veranstaltete der Rundfunk dann die "Jazzbühne Berlin" zunächst im alten, später dann im neuen Friedrichstadtpalast. Dafür stand uns ein bestimmtes Budget in Valuta zur Verfügung. Mein Kollege Walter Cikan sperrte seine Augen und Ohren ganz weit auf und versuchte alles, was in Sachen Jazz in Europa Rang und Namen hatte, für unsere "Jazzbühne Berlin" zu gewinnen. Das war natürlich eine weitere reiche Informationsquelle für mich.

1963 verließen Sie die Hochschule mit einem Diplom. Sind Sie danach direkt zum Rundfunk gegangen oder gab es noch eine Zwischenstation?
Es gab eine scheinbare Zwischenstation. Es gab in den Bezirken sogenannte Kulturhäuser. Und im Bezirk Potsdam war eine Stelle frei, wo man jemanden für die Abteilung Musik im ganzen Bezirk brauchte. Ich hatte eigentlich auch schon zugesagt, weil mein damaliger Mann in Potsdam als Gitarrenlehrer beim Lehrerinstitut tätig war. Dramaturgiestellen gab es leider nur in Eisenach, aber da ich gerade frisch verheiratet war, wollte ich nicht unbedingt so weit weg von zuhause arbeiten. Eines Tages flatterte mir ein Telegramm von einem gewissen Herrn Wilhelm Penndorf, dem Chefredakteur von Radio DDR, ins Haus. Ich wurde eingeladen zu einem Aufnahmegespräch, da ihm gleich zwei Kollegen im Bereich Musik fehlten. Die waren einfach im Westen geblieben. So wurden zwei Stellen frei und ich konnte mir aussuchen, ob ich in der Unterhaltungsmusik oder in der Tanzmusik anfangen wollte. Ich entschied mich für die Tanzmusik, weil mir das näher lag. Am Ende stellte sich das auch als die richtige Entscheidung heraus.

Jetzt frage ich mal ganz unbedarft nach: Ich kenne U-Musik und E-Musik. Sie hingegen unterscheiden zwischen Tanz- und Unterhaltungsmusik. Worin liegt denn da der Unterschied?
Der Unterschied liegt darin, dass es bei uns in der Unterhaltung zwei Formen gab. Da war zum einen die hohe klassische Ebene mit dem Sinfonieorchester und dem Rundfunkchor. Und dann gab es die unterhaltende Klassik. Die wiederum reichte runter bis zur modernen Unterhaltungsmusik, die eine Art sinfonischen Charakter hatte. Dafür gab es Orchester sowohl beim Fernsehen der DDR als auch beim Rundfunk. Das waren das sogenannte Estradenorchester oder das Große Rundfunkorchester Berlin. Diese fassten die Ebene unter den sinfonischen Konzerten ab. Bei der Tanzmusik hatten wir stattdessen eine Big Band sowie ein Tanzstreichorchester zu verwalten. Daneben gab es dann noch kleinere Formationen, zum Beispiel machten Streicher ein Sextett auf. Das waren sozusagen freie Gruppen und Orchester, die von einem Rundfunkredakteur betreut wurden und auch produziert werden konnten und durften. In diesem Rahmen fand auch unsere erste Rockproduktion statt.

Das war diese Zeit in den Sechzigern, wo es in der DDR so etwas wie Rockmusik noch gar nicht gab. Man sieht das wunderbar, wenn man sich mal ein paar "Melodie & Rhythmus"-Hefte aus dieser Zeit anschaut. Wann ging es für Sie konkret los mit der Rockmusik?
Für mich begann es 1968 mit dem MANFRED LUDWIG SEXTETT. Das war faktisch noch eine Formation zwischen Jazz und dem Modernen. Sie spielten aber auch schon Titel der ersten frühen Rockgruppen nach. Also z.B. Musik der KINKS und so etwas in der Art. Es gab irgendwie in diesem Zeitraum auch schon ein oder zwei AMIGA-Sampler, wo die ersten Rockbands mit Instrumentalmusik drauf waren. Zum Beispiel die BUTLERS aus Leipzig. Und es entstanden in den Sechzigern auch die DDR-Singegruppen wie der OKTOBERKLUB und andere. Es gab also auch damals schon eine Menge Musiker, vor allem aber Texter, die dann im Prinzip zum Rock gewechselt sind. Wenn ich es für mich nun ganz genau nehme, fing ich dann doch erst 1969 an, und zwar mit der MODERN SOUL BAND, die damals noch als Sextett auftrat.

Aber bevor es soweit war, waren Sie zunächst einmal Redakteurin für Tanzmusik. Hatten Sie sich damals Ihren Beruf so vorgestellt? Wie waren die Anfänge in den Sechzigern, welche Aufgaben hatten Sie damals?
Ich hatte die Aufgabe, Musikprogramme zu machen. Es war so, dass mich jener Wilhelm Penndorf, der Chefredakteur für Musik war, zunächst für sechs Wochen ins Archiv schickte. Das machte er mit jedem Neuen so. Das fand ich ganz prima, denn dadurch lernte ich erst diesen ganzen Mechanismus kennen. Dort standen die vielen Regale mit den unzähligen Musikbändern und man konnte natürlich nebenbei auch viel Musik hören. Ich wusste schon bald, was eine Karteikarte bedeutet, was da drauf steht, welchen Zweck sie erfüllen. Das war wichtig, denn die Programmabläufe wurden mit Hilfe dieser Karteikarten gemacht. Aber man musste selbstverständlich die Musik auch kennen. Das empfand ich alles andere als langweilig, sondern ich kniete mich da richtig rein. Die erste interessante Sendung, die ich zu machen hatte und die ein bisschen den Rahmen gesprengt hat, war eine Satiresendung. Die lief auf "Radio DDR I". Es wurden in der Sendung lustige Sachen erzählt und die Aufgabe bestand nun darin, zu dieser lustigen Sache eine passende Musik zu finden, die daran anschloss und vielleicht die Sache nochmal aufs Korn nahm. Da musste man nämlich nochmals im Archiv wühlen, bis man das Passende fand. Ich habe jedenfalls von Anfang an die Grenzen überschritten, weil ich ja durch meine Ausbildung ein weites musikalisches Feld beackern konnte. Also habe ich durchaus auch mal Klassik oder sonst was mit eingebaut, wenn es gerade passte. Dadurch habe ich mir schnell einen bestimmten Ruf erarbeitet.

Das Jahr 1968 wurde von uns jetzt schon mehrfach erwähnt. Es war ja quasi der Start Ihrer Produzententätigkeit. Wie kam es denn dazu, dass Sie das Ressort gewechselt haben, also von der redaktionellen Arbeit hin zur Produzentin?
Das lief noch lange nebeneinander her. Dass man sich ausschließlich mit dem Produzieren von Musik beschäftigen konnte, war eigentlich erst ab den Siebzigern möglich. Man musste einfach alles machen. Ich hatte Termine, zu denen ich fertige Programme abliefern musste, ich hatte meine Produktionstermine… Es war auch gut so, dass man nicht nur auf eine Tätigkeit beschränkt war, denn dadurch bleibt man fit.008 20161119 1320527813 Man weiß dadurch auch immer, was im Rundfunk läuft, was abgeht. Und solange ich beim Rundfunk war, hatte ich zu den Redakteuren immer einen guten Draht. Ob es nun bei DT64 war oder ob es um die Jugendsendungen vom Deutschlandradio ging. Wir waren keineswegs abgekapselt und wollten das, was wir produziert haben, natürlich auch an den Mann bringen. Wir freuten uns riesig, wenn unsere Produktionen bei den Menschen ankamen und in den Hitparaden ganz oben standen.

Einer Ihrer Kollegen, Helmar Federowski, war bei AMIGA tätig. Der erzählte mir in unserem Interview, dass es dafür ein richtiges Studium und auch nur eine begrenzte Anzahl Stellen für Produzenten gab. Sie haben ja nun kein direktes Musikproduzentenstudium genossen ...
Helmar Federowski war ja auch Tonmeister und hatte dafür ein enstprechendes Studium absolviert.

Richtig. Aber letztlich stand bei Ihnen beiden auf den Schallplatten immer "Produzent" hinter ihren Namen.
Das stimmt, aber das wurde von AMIGA so gemacht. Ich stand ohnehin nur selten mit auf dem Cover, da musste ich schon viel Glück haben. Normalerweise gab es den Beruf eines Produzenten bei AMIGA unter einer anderen Bezeichnung, das war nämlich der Produktionsredakteur. Man konnte da aber von verschiedenen Richtungen aus einsteigen. Sowieso haben die wenigsten Leute, die in der Tanzmusik gearbeitet hatten, Musikwissenschaft studiert. Die meisten von denen waren praktische Musiker. Und ja, natürlich waren die Stellen beim Rundfunk limitiert. Aber auch die Plätze für ein Musikwissenschaftsstudium waren limitiert. Wissen Sie, es war ja damals nicht so wie heute, dass jeder zur Hochschule gehen und Musik studieren kann. In der DDR wurde immer sogenannte Bedarfsforschung betrieben, egal ob nun bei den Theatern oder bei den Orchestern. Dadurch liefen auch zu keiner Zeit so viele freie Musiker rum wie heutzutage. Und auch die Tonmeisterstellen waren beschränkt.

Wie würden Sie den Unterschied zwischen AMIGA und dem Rundfunk auf dieser Ebene beschreiben?
Wir beim Rundfunk hatten den direkten Zugang zur Sendung. Das war der wichtigste Unterschied. Und wir sollten produzieren, was der Rundfunk brauchte. Dass das dann so ausgeufert ist und wir ein Hauptproduzent für Rockmusik wurden, das hat die Zeit mit sich gebracht. Zum Beispiel herrschte bei uns immer der Kampf um die Länge der Titel. So ein Lied sollte nie länger als drei oder höchstens vier Minuten sein. In Wirklichkeit machten wir aber dann echte Riesenwerke mit der STERN COMBO oder ELECTRA. Auch PANKOW gehört mit ihrem "Paule Panke" in diese Ecke.

009 20161119 2053800815Also gab es auch damals schon diese 3:22 Minuten-Regel, wie sie heute heißt?
Nicht genau 3:22 Minuten, aber es war so, dass man wenigstens unterhalb der vier Minutengrenze bleiben sollte. Aber nicht nur bei der Länge der Musiken, sondern auch in den Programmen gab es mit der Zeit große Änderungen. Ich habe ja schon den Wechsel miterlebt von einfachen Abspielprogrammen hin zu Nachmittagsmagazinen. Das fand ab Mitte der 60er Jahre statt. Man hatte also plötzlich die verschiedensten Wortbeiträge im Programm. Und man selber war auch in dem Studio, aus dem die Sendung ausgestrahlt wurde und hatte einen Koffer mit vielen Musikbändern dabei, die man dann während der Sendung abspielte. Das war auch eine interessante Tätigkeit. Man konnte jetzt auch Sachen in so einer Sendung unterbringen, die vorher in einem reinen Abspielprogramm unmöglich waren. Etwas später gab es ja die entsprechenden Jugendmusiksendungen, die verschiedene Schwerpunkte hatten. Zum Beispiel den Schwerpunkt der Information über bestimmte Musik oder eben über die reine Unterhaltung durch Musik. DT64 hatte sich ja zunächst nur für ein paar Stunden täglich gebildet, was nach und nach immer mehr ausgedehnt wurde, bis die zum Schluss ein völlig selbstständiger Sender waren. Da gab es also auch viele Entwicklungen.

Wenn wir jetzt über jede einzelne Produktion sprechen wollten, die später zum Hit oder Evergreen wurden, würden wir dieses Interview am Ende wahrscheinlich in ausgedruckter Form zum Buchbinder bringen müssen. Aber über ein paar Sachen müssen wir einfach reden.
Also ich sage immer, wenn ich "Du hast den Farbfilm vergessen" woanders produziert hätte, wäre ich heute eine reiche Frau.

Bevor wir dazu kommen, noch eine Frage: War das wirklich so, dass Sie mit einem Produktionswagen durch die Lande gefahren sind anstatt die Leute in ein festes Studio zu holen? Also hinten rein in den LKW und los geht's?
Ja, das war wirklich so. Wir haben zwar unter freiem Himmel mitgeschnitten, aber nicht produziert. Zum Glück gab es in den Bezirken immer irgendwo ein Studio. Es gab in Schwerin einen Sender mit einem Saal, in Weimar existierte ebenfalls ein Sendesaal, in Leipzig sowieso, denn dort war eine Art Schwerpunkt mit mehreren Orchestern. In Greifswald konnten wir einen Saal mieten, in Dresden-Hellerau gab es Kulturhäuser, in die wir rein konnten. Die Technik befand sich im Ü-Wagen und gespielt haben die Musiker dann in einer der genannten Räumlichkeiten, die vorher entsprechend eingerichtet wurden und wo angespielt wurde. Allerdings hatten wir damals noch keine Mehrspurtechnik. Deshalb wurde alles live produziert. Als wir dann später auf dem Ü-Wagen auch über Vierspurtechnik verfügten, konnten wir den Gesang separat aufnehmen. Es hat sich entwickelt. Und nicht zu vergessen, in den alten Radiostudios gab es anfangs nur Mono-Technik, kein Stereo. Die Stereotechnik hatten wir dafür aber auf dem Ü-Wagen parat. In dieser Zeit habe ich auch sehr viele interessante Leute kennengelernt, mit denen ich dann in der Regel so lange produziert habe, wie ich beim Rundfunk aktiv war. Ein Beispiel dafür ist Jürgen Kerth, den wir in Erfurt/Weimar produzierten. Oder Wolfgang Ziegler, der damals das BALTIC-QUINTETT hatte. In Dresden machten wir die ersten Aufnahmen mit LIFT, die damals noch DRESDEN-SEXTETT hießen. Dadurch wurden die Herren von ELECTRA hellwach und wollten das natürlich auch. Inzwischen hatte sich der Sender Dresden schon mit Stereotechnik ausgerüstet, so dass wir auch gleich im dortigen Studio produzieren konnten. So ging es reihum in der Republik, bis es sich eines Tages auf Berlin und Leipzig fokussierte.

010 20161119 1248964452Ich kenne ein paar Geschichten von einem, der bei uns im Hintergrund mitwirkt, nämlich Klaus Schmidt. Der erzählte uns u.a. mal von einer Liveübertragung aus dem Ü-Wagen. So kann man sich also Ihre Arbeit vorstellen, wenn Sie mit Ü-Wagen unterwegs waren und live aufgenommen haben, oder?
Ja, es lief tatsächlich live. Die ersten Erfolge und Fortschritte waren die Vierspurtechnik, wodurch wir bestimmte Dinge auf verschiedenen Spuren unterbringen konnten. Live bedeutet ja: alles gleichzeitig. Nun befanden wir uns aber damals gerade in einer Zeit, in der diese Riesenwerke entstanden sind und wo unheimlich Wert darauf gelegt wurde, dass z.B. die große Trommel genau so klingt und nicht anders. Da war man dann mit einem Ü-Wagen schon überfordert und ging lieber ins Studio. In den Studios wiederum gab es Tonmeister, die so kühn waren, Instrumente, die eigentlich auf zwei Spuren untergebracht waren, zusammenzufassen, um wieder freie Spuren zu gewinnen. Das war das eigentliche Problem. Und aus diesem Grunde gab es dann immer mehr Mitschnitte von öffentlichen Veranstaltungen, die aber erst im Studio mit Mehrspurtechnik produziert wurden.

Nennen wir mal ein paar Beispiele. Die ungarische Band OMEGA hat in der DDR Anfang der 70er Jahre ihren Hit "Perlen im Haar" veröffentlicht. Den Titel gab es bereits mit einem ungarischen Text. Wurde der Song für den Rundfunk komplett neu aufgenommen oder nur die Gesangsstimme von János Kóbor?
Ich selber habe ja viel mit polnischen Gruppen gearbeitet wie den SKALDEN, den ROTEN GITARREN, Maryla Rodowicz, mit 2+1 oder Halina Frackowiak. Wir haben immer neu produziert. Für die polnischen Texte hatten wir Rohübersetzungen und haben dann sozusagen von den Textern Nachdichtungen machen lassen, die hinterher wieder singbar waren und die Reime hatten. Dabei merkten wir, welche Themenfülle in anderen Länder bereits vorhanden war, denn dort wurde die Rock- und Beatproduktion nicht so unterbrochen wie bei uns. Ich rede von dem Plenum, welches dieses "Yeah Yeah Yeah" nicht mehr haben wollte. Die Bands und Künstler in den anderen Länder konnten sich und ihre Musik deshalb systematisch und ungestört aufbauen. Dort hatten die Rundfunkstationen auch viel eher die Möglichkeit, selber Platten zu veröffentlichen. Nur bei uns in der DDR hat sich das Zentralkomitee der SED immer dagegen gestellt, die Alleinherrschaft von ETERNA und AMIGA auf diesem Sektor zu brechen. Da hatten wir einfach Pech.

Ein weiterer erwähnenswerter Titel ist von RENFT "Wer die Rose ehrt" - inzwischen schon fast ein Volkslied. Das ist natürlich DER Vorzeigetitel überhaupt, wenn man über den Ostrock spricht. Können Sie sich noch an diese Produktion erinnern?
Aber ja! Ich habe von einer DT64-Redakteurin einen Tipp bekommen. Die sagte mir: "Fahr doch mal zu RENFT, die spielen dann und dann am Müggelsee im Rübezahl". Ich also da hin. Das "Rübezahl" war im Prinzip eine große Baude aus Holz, da wurde geraucht und getrunken, wie das eben so war. Und RENFT war eine Band, die schon deutschsprachige Titel im Programm hatten, nämlich "Zwischen Liebe und Zorn" und "Wer die Rose ehrt". Dahinter steckten Gerulf Pannach und Kurt Demmler als Texter.011 20161119 1148026824 Ich habe nach dem Konzert sofort beschlossen, die werden produziert und habe das auch gleich klargemacht, uns also die Erlaubnis beschafft. Da Studiotermine rar waren, hatten wir aber nur noch die Möglichkeit, in Lücken reinzurutschen. Und weil die Studios tagsüber durch andere Dinge besetzt waren, mussten wir auch viel in der Nacht produzieren. Diese beiden Nummern waren jedenfalls die beiden ersten RENFT-Titel, die wir beim Rundfunk produziert haben.

Da hake ich mal nach. Sie sagten gerade, Sie mussten sich für die Produktion das Okay holen. Gab es denn auch mal Absagen, wenn Sie den Antrag gestellt haben?
Ja, die Lektorate mussten zustimmen. Ansonsten ist das ein weites Feld. Wenn wir darüber grundlegend diskutieren wollen, müssen wir es wieder als Buch binden lassen. Ich will es mal so zusammenfassen: das Meiste haben wir produzieren können. Bestimmte Tabuthemen stießen jedoch immer wieder auf Ablehnung. Wir waren junge Leute, die Musiker waren junge Leute. Wir verstanden von Musik oft mehr als die Musiker, obwohl die ja nun auch keine Amateure waren. Die besuchten schließlich eine Musikschule oder sogar eine Hochschule, wo Tanzmusikklassen eingerichtet waren. Also konnte man durchaus auf einer relativ fundierten Ebene miteinander verhandeln. Wir waren also zum einen eine Art Werkstatt und andererseits auch so was wie ein Lektorat. Der Rundfunk war ja eigentlich eine Art Verlag, bei dem es auch Lektorate gab.

Auf einen Song müssen wir unbedingt noch eingehen, nämlich "Tritt ein in den Dom" von ELECTRA. Auch das ist so ein typischer Titel mit Überlänge.
Ja, das war eben damals schon möglich und 1972 auf dem Rocksektor üblich, lange Titel zu machen. Solche Nummern gingen ohne weiteres durch das Lektorat. Es war aber nicht möglich gewesen, die Lieder zu produzieren, ohne sie vorher beim Lektorat vorzustellen. Dafür gab es einen Chefproduzenten, der letztlich dafür verantwortlich war, was produziert wurde und was nicht. Bei "Tritt ein in den Dom" entfachte aber in den Redaktionen Streit darüber, ob dieser Titel nicht die konkurrierende "Junge Gemeinde" unterstützen würde. Das führte dazu, dass dieser bereits produzierte Titel in den "Giftschrank" wanderte und nur für bestimmte Gelegenheiten dort herausgenommen werden durfte. Nichtsdestotrotz wurde es ein Hit und eigentlich jeder, der sich für die DDR-Rockmusik interessiert, kennt das Lied.

"Der Kampf um den Südpol" von der STERN COMBO MEISSEN ist auch Ihr Werk?
Nein, dafür war Walter Cikan verantwortlich. Wir hatten uns das so aufgeteilt. Ich hatte ELECTRA, er die STERN COMBO. "Der Kampf um den Südpol" ist aber grundsätzlich ein sehr schönes Beispiel. Ich muss aber sagen, dass wir da von unseren polnischen Kollegen viel gelernt haben. Da gab es von den SKALDEN den Titel "Krywan", der zwanzig Minuten lang ist. Die SKALDEN besingen in dem Lied einen Berg in der Hohen Tatra. Ein weiterer Titel der SKALDEN hieß "Isaac Newton". Den hat Bernd Maywald nachgedichtet. In dem Lied geht es darum, dass Newton die Schwerkraft erkannt hat, aber keine Kriege verhindern konnte. Das waren Themen, die bis dato in der Rockmusik noch nicht aufgetaucht waren.

Also muss ich den Namen STERN COMBO MEISSEN aus Ihrer Vita rausstreichen?
Nein, Sie brauchen den nicht rausstreichen, denn ich habe sie mitgeschnitten. Und bei den Mittschnitten hat man fast alle Gruppen mal betreut, da war man nicht gebunden. Außerdem war ich kein seltener Gast im Produktionsstudio der Stern-Combo. Sie gehörten zu den Vorreitern, die ein sogenanntes Privatstudio aufgebaut hatten. Dort war z. B. Lothar Kramer Tonmeister und Toningenieur in einer Person. Der ist später in den Westen gegangen und ist dort zu Ruhm und Ehre gekommen. Wir haben uns Ende der 80er bei dem legendären Konzert von Pink Floyd vor dem Berliner Reichstag wiedergetroffen. Dort haben wir auch festgestellt, dass es das Beste auf dem Live-Sektor war, was wir bis dahin vom Sound her gehört hatten.

Wie sieht es denn mit der "Tagesreise" der HORST KRÜGER BAND aus?
Horst Krüger ist jemand, der für mich sozusagen am Anfang steht. Mit dem schon mal erwähnten DRESDEN SEPTETT habe ich damals angefangen zu produzieren. Krüger stand seinerzeit immer so ein bisschen zwischen den Fronten. Für mich hat er eine wunderbare Popmusik gemacht. Er hatte einen sehr guten Chor, hatte gute Solisten und war auch selber ein guter Sänger. Wenn ich später mal das ELECTRIC LIGHT ORCHESTRA gehört habe, fiel mir dabei immer Horst Krüger ein. Ähnlich geht es mir bei Eros Ramazotti, wenn in dessen Liedern irgendwo der Chor einsetzt, dann denke ich sofort an Horst Krüger. Den produzierte ich immer sehr gerne.

Die "Tagesreise" ist ja eine Nummer von Michael Heubach. Haben Sie die Nummer mit Heubach zusammen produziert?
Ja. Außerdem ging alles, was Horst Krüger gemacht hat, über meinen Tisch. Im Übrigen ist die "Tagesreise" ein ganz typischer DDR-Titel. Musikalisch sehr interessant, und auch der Text hat viel Aussagekraft.

Und Michael Heubach hat auch das Lied geschrieben, über das Sie vorhin sagten: "Wenn ich das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort produziert hätte, wäre ich heute eine reiche Frau". Gab es also öfter mal Momente, in denen sich die Wege mit anderen gekreuzt haben?
Sie müssen wissen, ich bin immer an den Leuten dran geblieben. Auch an Michael Heubach. Es gab Leute, die empfand ich auf ihrem Sektor als genial, weshalb es für mich eine Freude war, die auf ihrem Berufsweg zu begleiten. Ich war eben auch der Produzent der Gruppe AUTOMOBIL, die den "Farbfilm" gemacht hat. Ich bin da praktisch mit Heubach mit gewandert. Er ist ja wirklich ein universell ausgebildeter Musiker und kannte mit Sicherheit mehr als nur die gängige Tanzmusik, denn was er mit dem "Farbfilm" abgeliefert hat, liegt ja irgendwo zwischen Bänkellied und Kurt Weill. Und ich bin immer ganz traurig, wenn die Nina Hagen das als "Schlagerchen" bezeichnet. Da steckt viel mehr drin als ein "Schlagerchen".

Anfang der 80er kam die nächste Generation Musiker auf. Die alten Artrockbands traten ein bisschen in den Hintergrund und es gab plötzlich diese aufmüpfigen Bands wie PANKOW. Und PANKOW haben Sie auch mehr oder weniger auf die Schienen geholfen, richtig?
Ja, das stimmt. Ich habe den Mittschnitt von "Paule Panke" in die Wege geleitet. Daraus wurden dann noch der "Werkstattsong" und "Freitag" produziert. Danach hat dann AMIGA zugegriffen. Aber hier haben wir ein wunderschönes Beispiel dafür, dass es auch mal andersherum laufen kann. AMIGA wollte "Paule Panke" nicht als Musical rausbringen, deshalb blieb es bei unserem Mitschnitt. Erst sehr, sehr viel später entschloss sich Dr. Büttner, der AMIGA-Chef, dann doch noch dazu, "Paule Panke" erscheinen zu lassen. Mir persönlich gefiel "Paule Panke" und PANKOW überhaupt schon immer sehr gut, denn es waren auch erstklassige Musiker, die da gespielt haben. Der erste Titel, den wir gemeinsam produziert haben, nämlich "Inge Pawelczik", war ein richtiger Berliner Song. Es ging darin um einen One-Night-Stand, zu dem Wolfgang Herzberg den Text geschrieben hat. Der gefiel mir richtig gut. Den Namen zum Song hat sich die Band ausgedacht und sich dabei wohl auch ein bisschen am Telefonbuch orientiert.014 20161119 1697466980 Sie sind dabei tatsächlich auf einen Menschen mit diesem Namen gestoßen, den es in Berlin tatsächlich gegeben hat. Diese Inge Pawelczik war zudem Schulleiterin und hat sich daraufhin mächtig gewehrt, mit Rechtsanwalt und allem Drum und Dran. Am Ende hat der Chefredakteur Klaus Hugo gemeint, es sei die künstlerische Freiheit der Band und hat das Lied deshalb nicht gesperrt.

Wie sind Sie denn überhaupt auf PANKOW aufmerksam geworden?
(überlegt ...) Wahrscheinlich durch Jürgen Ehle. Wir sind eben viel rumgefahren, sind auf Konzerte gegangen und da haben PANKOW mal irgendwo gespielt. Vorher hatte man natürlich auch schon eine Menge über die Band gehört. Ich hätte auch gerne mit PANKOW weitergemacht, aber da kam ja dann die Platte und griff zu. d.h. alle weiteren Produktionen liefen dann beim Plattenlabel AMIGA. Auch mit Veronika Fischer hätte ich sehr gerne weitergearbeitet. Die ersten Songs von ihr stammen ja auch von mir. Also z.B. "Blues von der letzten Gelegenheit", "Klavier im Fluß" oder "In dieser Nacht", die wurden alle beim Rundfunk produziert. Aber auch hier kam dann AMIGA. Und natürlich musste man schon damals - und heute mehr denn je - eine Schallplatte bzw. eine CD haben. Als Künstler kannst Du Dich nicht darauf berufen, dass Du mal irgendwas beim Rundfunk aufgenommen hast. Das interessiert keinen und bringt international überhaupt nichts. Es war eine böse Erfahrung, aber die musste ich leider machen.

Frau Mirsch, wann gab es denn die erste Zusammenarbeit mit KARUSSELL?
Da muss ich etwas ausholen. Das war so: ich habe RENFT produziert. Und auf deren erstem Album sind ja unsere Rundfunkproduktionen drauf. Dann kam wieder mal AMIGA und schnappte sich die Band, aber es gab hier und da Titel, die AMIGA auch nicht produzieren konnte. Die waren mit manchen Sachen in einem ähnlichen Dilemma wie wir beim Rundfunk. Es gab nämlich Titel wie die "Rockballade vom kleinen Otto" oder "Glaubensfragen", die bei AMIGA eingereicht wurden, aber dann nicht genommen wurden, weshalb die ganze Platte nicht zustande gekommen ist. Und es gab noch weiteren Ärger. Dann kam es zu diesem ominösen Vorspielen, der sogenannten "Programm-Abnahme", vor der Konzertdirektion Leipzig. Da sind RENFT mit ihrem Programm durchgefallen, d. h. die damalige Chefin der Konzertdirektion meinte, sie müsse sich das gar nicht erst anhören, das ginge sowieso nicht und die Gruppe RENFT sei für sie auch gar nicht mehr existent. Pannach und Kuhnert wurden - meines Wissens - auch kurzzeitig eingesperrt und später in den Westen abgeschoben. Klaus Renft selbst war mit einer Frau verheiratet, die eine andere Staatsbürgerschaft hatte. Ich glaube, sie war Griechin. Der konnte ganz normal ausreisen. Mit Cäsar und Jochen Hohl waren noch Musiker übrig, und so kamen der hervorragende Schlagzeuger Jochen Hohl und mein lieber Freund Cäsar dann irgendwie zur Leipziger Band KARUSSELL. Mir wurde die Gruppe KARUSSELL dann schon mit den beiden als feste Mitglieder vorgestellt. Ich kannte diese Gruppe vorher gar nicht. Die kamen dann bei uns an und meinten, sie hätten Jochen und Cäsar jetzt in ihrer Band und eigene Lieder, die sie gerne aufnehmen möchten. Und so kam die erste Produktion im Jahre 1978 und meine Tätigkeit für KARUSSELL über die Auflösung von RENFT zustande.

Haben Sie bei all den Produktionen auch eigene Ideen einbringen können oder hatten die Musiker freie Hand, ihre eigenen Vorstellungen 1:1 umzusetzen? Also waren Sie im kreativen Bereich mit tätig oder eher weniger?
Ich musste ja schon kreativ werden, wenn die Musiker mit ihren Probebändern ankamen. Da wurde ja bereits darüber geredet und entschieden, ob der Song überhaupt eine Chance hat. Viel Arbeit fand also vor dem Studio statt, bis hin zum Lektorat, wo die Titel letztlich vorgestellt wurden. Da wollte man schon hieb- und stichfeste Argumente haben, damit einem der Chefproduzent das nicht kaputt redet. Dazu kamen ja dann noch die Textlektoren, die ebenfalls ihr Okay geben mussten. Deshalb haben wir vieles schon vorher besprochen und wir fuhren zu Veranstaltungen, wo manche Lieder schon mal vorab gespielt wurden. Man musste also wirklich selber überzeugt sein von der Musik. Anders bin ich nie ins Lektorat gegangen. Und wenn ich dann trotzdem eine Niederlage erlitten habe, also Titel abgelehnt wurden, war ich wütend, ist ja klar. Aber wie schon weiter oben gesagt, habe ich das Meiste durchgekriegt.

Das ist ja auch einer der Gründe dafür, dass die Musiker und sonstigen Leute so von Ihnen reden, wie sie reden. Weil Sie eben für sie gekämpft haben.
Sicher, das war ich ihnen schuldig, aber auch mir selber. Sonst wäre ich auf diesem Posten falsch gewesen. Es ging ja auch um meine Berufsehre.

Mal abgesehen von den Texten und den Inhalten, sind Sie auch während der Aufnahmen manchmal eingestiegen und haben gesagt: "Das würde so und so besser klingen" oder haben Sie die Musiker ihr Ding machen lassen?
Ich kam ja von der ernsten Musik. Und die Musiker verstanden von den Sounds natürlich viel mehr als ich. Die waren diesbezüglich auch deutlich gebildeter als ich, denn die haben Platten gesammelt, vieles gehört und ausgewertet. Ich habe bis auf die reinen Amateurbands in der Regel Leute vor mir gehabt, die alle an den entsprechenden Hochschulen Musik studiert hatten. Da gab es ja auch schon überall die Tanzmusikklassen, ob nun in Weimar, Leipzig, Dresden oder Berlin. Auf jeden Fall war es wichtig, dass wir uns gegenseitig als Kollegen akzeptiert und gesehen haben und auch so miteinander gesprochen haben. Trotzdem gibt es immer noch Zeit für ein Späßchen wie z.B. mit dem Bassisten von ELECTRA. Der schimpfte immer, ich hätte sein Bassspiel kaputt gemacht, weil ich den Bass als zu laut empfand (lacht). Aber das war alles nur spaßig gemeint. Sicher, ich hatte andere Ansprüche, das stimmt. Aber meistens habe ich mich dann mehr in die Umsetzung und Gestaltung der Texte eingebracht.

016 20161119 1432485888Sie hatten 1986 ihre letzte Produktion, weil sich der Rundfunk dann aufgespalten hat. Für welchen Künstler waren Sie zum Abschluss tätig?
Das stimmt nicht ganz, denn wir haben eigentlich bis 1989 produziert. 1990 kamen die Umbrüche, da fielen die Etats für freie Gruppen weg. Der Rundfunk wurde ebenfalls umgebaut und plötzlich hatte ich die Big Band und das Tanzstreichorchester als Chef an der Backe. Mit sogenannten freien Produktionen war dann Schluss. Außer es kam jemand, der auch entsprechend bezahlt hat. Bei uns im Rundfunk waren ja auch viele West-Arrangeure wie z.B. Igor Rosenow, die bei uns Musik produziert haben. Und die mussten dafür bezahlen. Aber 1986, um auf den Ausgangspunkt der Frage zu kommen, war für mich keinesfalls Schluss, sondern da bekamen wir unsere eigene Produktionsabteilung, nämlich die Jugendmusik. Da hatten wir ein Popstudio - neu gebaut. Das war dieses am Anfang erwähnte Inselstudio, welches BP gehörte. Es war eine aufregende Zeit. Von 1986 bis 1989 haben wir jedenfalls straff in unserem neuen Studio produziert, u.a. mit den Herzbuben, Tobias Künzel und Karussell. Außerdem haben wir zwei Konzerte mitgeschnitten, die eigentlich symptomatisch waren, und zwar kurz nach der Wende 1990 in Bischofswerda bei Dresden. Das erste Konzert war das von Veronika Fischer mit ihrer Gruppe. Damals haben wir auch noch ein Weihnachtslied mit Vroni im Studio produziert, nämlich "Weihnachten wieder daheim". Das zweite Konzert war das der Klaus Renft Combo und Karussell. Cäsar war allerdings nicht dabei, weder bei RENFT noch bei Karussell, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt seine eigene Band. Ansonsten war die alte RENFT-Besetzung auf der Bühne.

Wie ging es denn danach weiter? Was haben Sie dann gemacht?
Wir haben z.B. mit dem Staatlichen Symphonieorchester Halle, einer zusammengestellten Rockband und den Solisten Anke Schenker, Anke Lautenbauch und Matthias Freihof im Palast der Republik die "Messias Variationen" auf die Bühne gebracht. Am Abend der ersten Aufführung fiel die Mauer. In der Folge sind die "Messias Variationen" mit dem Filmorchester Babelsberg und den Solisten Eva Maria Pieckert, Anke Lautenbach und Mike Kilian, den ich ja von Rockhaus noch gut kannte, aufgeführt worden. Außerdem hatte ich zwei Orchester zu betreuen, nämlich die Tanzstreicher und die Big Band.

Stimmt es, dass daraus hinterher das FILMORCHESTER BABELSBERG entstanden ist?
Ja, ganz genau. Ihre ersten Produktionen machten die sogar noch beim Rundfunk. Das war ja ein großer Apparat und die Aufträge von Herrn Rosenow und Herrn Grund haben das Orchester eine ganze Weile beschäftigt. Plötzlich war ich ein Chefproduzent.

017 20161119 1182936182Als die Mauer fiel und Deutschland wieder zusammengewachsen ist, fand zunächst die Kulturszene der DDR gar nicht mehr statt...
Ich muss Ihnen dazu sagen, dass wir durch die Leute aus dem Westen, die bei uns produzieren wollten, einige Kontakte aufgebaut hatten. Zum Beispiel hatten wir einen sehr lebendigen Kontakt zu HANSA, weil die sich für Gruppen interessiert hatten, die wir produzierten. Da gehörte u.a. KARUSSELL dazu, die haben wir bei uns produziert und bei HANSA in Westberlin abgemischt. Dazu kam, seit wir mit der Jugendmusik unsere eigene Abteilung hatten, bekamen wir auch Pässe und konnten in den Westen reisen. Deshalb war ich auch in den Studios von HANSA und habe dort mit den Kollegen zusammengearbeitet. Wir waren also keinesfalls total abgeschottet. "Als ich fortging" wurde z.B. in Westberlin abgemischt.

Mir geht es aber eigentlich mehr um die Zeit nach 1990, als viele DDR-Bands keine Auftrittsmöglichkeiten mehr hatten und das Interesse des Publikums nicht mehr da war. Und wenn sich das Publikum nicht mehr dafür interessiert, gibt es auch keine Plattenproduktionen mehr. Man kann also sagen, die DDR-Musik fand nicht mehr statt. Auch die Sachen, die vorher noch produziert wurden, wurden jetzt eher stiefmütterlich behandelt. So nehmen es jedenfalls viele Musiker wahr und auch wir, die früher diese Musik konsumiert haben. Wie empfanden Sie das?
Ich war aus der Rockmusik völlig raus. Ich musste mich ja nun um die Orchester kümmern. Bei denen ging es auch ums Überleben. Es war eine schwere Zeit. Meine Aufgabe bestand darin, die wenigen Produktionen zu organisieren, die für die Orchester noch anstanden. In meinem eigentlichen Metier war ich fast gar nicht mehr tätig. Als Produktionsstudio nutzten wir mit den Orchestern jetzt auch unser Popstudio. Jetzt ging auch der Kampf los, welche der vielen Orchester werden in die neuen Rundfunkstationen übernommen und welche nicht. Das Sinfonieorchester ging dann zum Deutschlandradio, während die Tanzorchester völlig in der Luft hingen. Wir bekamen glücklicherweise noch eine ABM und konnten uns Gott sei Dank durch Produktionen für Westverlage retten. Ein Musiker des Tanzstreichorchesters und einer der Big Band bemühten sich dann, für sich und den Großteil der Musiker eine Zukunft zu finden, und so kam es zur Gründung des FILMORCHESTERS BABELSBERG. Inzwischen sind sie auch richtiggehend in Potsdam-Babelsberg angesiedelt.

In all den Jahren Ihrer Tätigkeit haben Sie mit Sicherheit viele Dinge erlebt, die man auf den Platten nicht hören konnte. Erinnern Sie sich noch an nette Geschichten, die Sie niemals vergessen werden?
(lacht) Oh ja, da gibt es so einiges. Es war immer schön, mit Franz Bartzsch und Veronika Fischer zu arbeiten, solange ich dazu die Möglichkeit hatte. Nachdem Vroni Ärger mit der Platte hatte, ist sie immer mal wieder zum Rundfunk zurück gewechselt. In dieser Zeit habe ich für Veronika sehr schöne Songs aus der Feder von Thomas Natschinski gemacht. Ich erinnere mich auch sehr gerne an REFORM aus Magdeburg, bei denen inzwischen Stephan Trepte als Sänger angekommen war. Von REFORM gab es diesen sehr schönen Titel "Dicke Bohnen". Und wir hatten einen Tonmeister, der sehr genau, aber auch einer von den Besten war. Irgendwo in dem Titel sollte ein Löffel runterfallen, weil Trepte den "Löffel abgeben" wollte, wenn er keine dicken Bohnen kriegt. Da ist dieser liebe Tonmeister im Studio auf dem Boden rumgekrabbelt, um rauszufinden, wo am besten der Löffel fallen könnte. Das werde ich nie vergessen, das war sooo schön.

Für solche Details nimmt man sich heute eigentlich keine Zeit mehr.
Stimmt. Und noch etwas bleibt mir in Erinnerung. Es war ja schon die Rede von "Tritt ein in den Dom". ELECTRA haben wir viele Jahre in Leipzig produziert. Dort konnten wir immer erst ab nachts um zwölf ins Studio, die Orchester mussten bis dahin raus sein. Die großartigen Chöre, die in dem Lied zu hören sind, wurden aber erst im Morgengrauen aufgenommen, weil die Morgensonne so schön durch die Fenster schien und der Chor dann umso kraftvoller "Tritt ein in den Dom" schmettern konnte. Das war auch eine herrliche Situation. In Berlin haben wir so etwas nie erlebt. In Berlin konnte ich auch nicht erleben, was mir die Stadt Weimar samt der Gruppe BAYON geboten hat. Es hatte sich über die Jahre eingebürgert, dass wir immer im Mai mit einem großen Ü-Wagen, dem Ü31 wie ihn auch Klaus Schmidt gefahren hat, nach Weimar fuhren und uns nach Genehmigung durch die Polizei direkt vor das Haus von Christoph Theusner, dem Chef von BAYON, platzieren konnten. Das Haus ist eigentlich ein Häuschen und befindet sich in der Alten Jakobstraße. Daneben stand noch ein Häuschen, das zu dieser Zeit von Tobias Morgenstern bewohnt wurde. Er ist ja als Akkordeonist und als einer der Leiter des "Theater am Rand" im Oderbruch bekant. Dort in Weimar haben wir etwas aufgenommen, was man heute als Weltmusik bezeichnet. Diesen Begriff gab es damals aber noch nicht. Für uns war das eine besondere Sache, dass Klassik, Barock und Renaissance mit Jazz-Elementen verbunden wurden und so eine ganz besondere und einmalige Musik entstand. Neben diesen beiden Häusern gab es eine freie Stelle mit einer grünen Wiese, auf der das gesellschaftliche Leben stattfand. Das war immer eine schöne und kreative Zeit. Weimar war auch besonders fruchtbar, weil auf so engem Raum ein studentisches Leben blühte. Da gab es das "Café Resi" und der nicht minder berühmte "Kasseturm",019 20161119 1936516755 in denen Feten und Konzerte stattfanden. Hier wurden auch Mitschnitte gemacht. Bei BAYON spielten immer wieder auch Gastmusiker mit, wie z.B. der eben erwähnte Tobias Morgenstern. So ging aus Mitgliedern der Gruppe BAYON später auch die Gruppe L'ART DE PASSAGE hervor. Daraus wiederum das "Theater am Rand".

Ich glaube, wir könnten uns stundenlang über Ihre Erlebnisse unterhalten. Gab es denn noch nie die Idee, all das in einem Buch zu verewigen?
Na ich weiß nicht… Es gibt ja bereits genügend Bücher über die DDR-Rockmusik. Ich habe nicht die Muße und ich weiß auch, dass das Aufschreiben eine sehr zeit- und nervenaufreibende Sache ist. Ich bin eben auch kein Freund davon, dass jeder seinen Senf dazu abgeben muss.

Ich finde aber schon, dass die wichtigsten Leute, zu denen Sie sich ohne falsche Bescheidenheit zählen dürfen, Ihre Erfahrungen und Erlebnisse durchaus der Nachwelt präsentieren sollten. Aber wir haben ja jetzt ein schönes Interview mit Ihnen.
Ich freue mich sehr, dass das Interview zustande gekommen ist und grüße alle, die ich nicht genannt habe. Ich hatte an allem, was ich gemacht habe, echten Spaß und große Freude gehabt. Es war immer eine sehr schöne Arbeit.

Herzlichen Dank für dieses Interview, Frau Mirsch.
Bittesehr!


Interview: Christian Reder
Bearbeitung: tormey, cr
Fotos: Reinhard Baer, Archive Luise Mirsch und Deutsche Mugge, Herbert Schulze




   
   
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