Jürgen Kerth

 
Interview vom 1. Dezember 2007

 

 

Sein Motto ist "Wehret der Anmaßung". Er wurde schon mal als "Mittelgroßer Dauerbrenner" bezeichnet. Musikerkollegen schätzen ihn als virtuosen Meister der Gitarre, einen der Besten. Mit seiner Art wurde er zum gefeierten Star. Mit seiner unerschütterlichen Liebe zum Blues durchstand er Verbote und Ignoranz der Kulturgewaltigen der DDR ebenso, wie herbe persönliche Schläge des Lebens. Ich habe in einem langen Gespräch einen kritisch - wachen wie klugen und verständigen Mann kennengelernt. In einem ungewöhnlichen Interview stand mir ein Beispiel an menschlicher wie musikalischer Größe Rede und Antwort. Jürgen Kerth erzählte aus seinem Leben und von seiner Musik. Zu lesen ist seine Geschichte hier.

 


Jürgen, wenn man dem was zu vielfach lesen ist glaubt, bist Du ein Urgestein des Ostrock ja sogar des Beat überhaupt. Wie und wann kam Jürgen Kerth zur Musik?
Musik hat mich einfach fasziniert. Rock'n Roll und Blues fand ich toll. Ich wollte das auch können, wollte meine Gedanken und Gefühle in Musik ausdrücken. Und so hab ich mir 'ne gebrauchte Gitarre besorgt und begonnen, von Freunden erste Griffe zu lernen. Gemeinsam machten wir dann die großen Namen von damals nach. Es entstanden überall neue Combos wie die Sputniks, Achim Menzels "Diana Show Quartett", die Lunics oder die Butlers. Und alle machten Musik, wie man sie im Westradio hörte. In Erfurt habe ich damals mit meinem Schulfreund Gotte Gottschalk die "Spotlights" gründen wollen. Das gab sofort den ersten Ärger. Der englische Name wurde nicht genehmigt und so haben wir uns "Rampenlichter" genannt. Dann durften wir spielen. Unsere Musik kam sehr gut an. Wir waren bei unseren Fans die "Beatles von Erfurt" und hatten sogar zwei Auftritte in Ungarn im Jazzclub von Esztergom. Da hat man uns zu den "deutschen Beatles" gemacht.
 
 

Heinz-Jürgen Gottschalk ist Dein Schulfreund?
Ja, wir waren zusammen mit Roland Michi an der KJS Erfurt. Ich saß mit Gotte in einer Bank. Wir waren alle Turner. Und in der Turnhalle haben wir Neil Sedaka "Sweet little you" oder "Sweet little sixteen" von Chuck Berry und die anderen Schnulzen von damals gesungen. Da hat mir Gotte, der schon Gitarre spielte, auch die ersten Griffe beigebracht. Wir haben uns diebisch gefreut, wie toll es in der Halle schallte. Ja und als Sportler haben wir auch entsprechende Disziplin gehabt, was die Musik anging. Wir haben wie verrückt geübt, um gut zu sein. Zumal Gotte und Roland irgendwann nicht mehr gut genug für Spitzesport waren, in schwächere Gruppen aussortiert wurden und da praktisch keine wirkliche Perspektive mehr hatten. Und ich habe dermaßen für die Musik Feuer gefangen, dass ich nur noch meine Gitarre und die Musik im Kopf hatte. Das erste Stück, das ich unbedingt können wollte, war "Walk right in, sit right down". Lustigerweise hat auch Waldi Weitz, so sagte er mal, genau mit dem Titel angefangen. Ich spielte damals auf einer zwölfseitigen Gitarre. Das Teil ging ab. Das war geiles Instrument. Genau wie die Nächste die ich spielte. Eine Doppelhalsgitarre. Aber das war dann schon nach den "Rampenlichtern".

 

Nach den Rampenlichtern? Warum gingen die "deutschen Beatles" aus Erfurt auseinander?
Die Erfurter Beatles, das war sogar sehr schnell vorbei. 1965 erhielten wir wie die Butlers in Leipzig und einige andere Gruppen in anderen Bezirken Spielverbot. Auf Lebenszeit! Es wurde in alle Bezirke per Fernschreiben verteilt: "Die 4 Musiker dürfen keinesfalls je wieder zusammenspielen!". Kein Bezirk durfte eine entsprechende Spielerlaubnis ausstellen. Mein erstes Verbot in der DDR und damit war es mit den "Rampenlichtern" zu Ende. Wir mussten uns fast verstecken. Gotte ging zu den "Ricardos" und ich zu "Unisono". Ob es auch ein bisschen Wettstreit war, jedenfalls gründete Gotte später die "Nautiks" und so trennten sich die gemeinsamen musikalischen Wege von Gotte und mir.

 

Andererseits wechselten die Musiker Deiner Bands aber eher selten. Woran liegt das?
Da sehe ich vor allem zwei Dinge. Zum einen wurde in der DDR eine Band so zu sagen fest zusammengeschrieben. Auf der Pappe, der Spielerlaubnis, ausgestellt von den Kulturbehörden der Bezirke, standen nicht nur ein Bandname, sondern da war auch mit Namen und Adresse festgelegt, wer da spielte. So ganz einfach konnte man da nicht aussteigen. Und so blieb man oft lange beieinander. Sogar wenn sich unterschiedliche Auffassungen zeigten. Mein späterer langjähriger Begleiter und Freund "Lodix" Lothar Wilke erklärte mich 1970 für verrückt, weil ich deutsch singen wollte. Trotzdem arbeiteten wir später zusammen, weil es in unserer Band immer so etwas wie Seelenverwandschaft gab. Alle Musiker der Band wollten flotte, moderne Musik machen , waren alle bluesverrückt. Und zudem wollten wir in unserer Heimat Musik machen, nicht in den Westen gehen. Vieles was es in der DDR gab, hatte den Stil, den die alten Kämpfer und Apparatschiks mochten. Ob Alltagsgegenstand oder Plattenbau. Vieles war irgendwie billig und überhaupt nicht sexy. Es war höchstens noch vernünftig und sparsam. Ausgefallenes, Pfiffiges und Individuelles wurde immer weniger. Ein Beispiel dafür ist der Trabant im Vergleich zum Wartburg Camping oder Sport. Vieles an Kreativität ging verloren, weil die Leute gebremst wurden, oder gleich in den Westen gingen. Ob Handwerk oder bürgerliches Engagement, vieles wurde verhindert und ins Private gedrängt. Das Ergebnis haben wir erlebt. Ich nannte diesbezüglich die DDR gelegentlich "Club der Geschmacklosen". Das traf auch für einen Teil der offiziellen Musik zu. Ich wollte dagegen anspielen und die Musiker meiner Band hatten in vielerlei Hinsicht die gleichen Vorstellungen. So hielten wir es eben recht lange miteinander aus. Zumal wir vom Publikum genau dafür gefeiert wurden.

 

Was sagst Du zu meiner Behauptung: Jürgen Kerth - Vater des Blues, Reggae und Soul der DDR, vielleicht gar des Ethno, bevor es diese Bezeichnung gab?
Ich wollte in der DDR immer alles bringen, was man in den USA auch hören konnte. Die verschiedenen Stile wollte ich zumindest angesprochen haben, damit wir nicht dumm sterben. Da mir sehr vieles gefällt und sich auch die Mode regelmäßig wandelt, hab ich versucht, die verschiedensten Stilistiken in meiner Musik umzusetzen. Der Titel "Jojo" ist mein Versuch zum Phillysound. Damit bin ich zu Amiga gegangen, um diesen damals modernen Sound für eine Platte anzubieten. Volkmar Andrä lehnte dankend ab. Als es drei Jahre später, nach zum Beispiel "Doch ich wollte es wissen" von Kreis dann doch erschien, war es bei weitem nicht mehr so aktuell. Auch heute ist die Musikszene in Bewegung. Ich glaube, nach Punk und harter Musik kamen stärker Swing- und Souleinflüsse. Und dann wird es demnächst auch wieder die gute, alte weiche Schnulze geben, denke ich. Mein Ziel war und ist es nicht, irgendwo Erster zu sein. Aber aktuelle Trends zu erkennen und umzusetzen, das ist mir schon sehr wichtig. Gelegentlich ist mir das wohl ganz gut gelungen. Immerhin war ich vor 1981 mehrfach bester Gitarrist des Landes und das vom Publikum gewählt.

 

Es gibt eine Reihe von Versuchen, die Musik von Jürgen Kerth zu beschreiben. Wie würdest Du sie selbst am treffensten beschrieben sehen?
Wir hatten vor kurzem ein wunderbares Konzert. Zu zweit mit meinem Sohn Stefan. Da hab ich mich so zu sagen mal neben mich selbst gestellt. Und ich habe festgestellt, dass unser Programm sehr breit gefächert ist. Es reicht vom brutalen Rock zum sensibelsten Swing, von allen Farben des Blues bis zum schwarzen Softsoul mit dem Titel "Ich finde keine Ruhe". Ich bemühe mich, das Reizvolle, so zu sagen den Sexappeal der einzelnen Richtungen zu erfassen, und in meine Titel einzubauen. Das mit einem Oberbegriff zu versehen ist praktisch unmöglich. Und ich bin ja nicht ausgebildet, sondern hab mir alles selbst beigebracht, oder eben abgeschaut von anderen Musikern. Und was ich spielte war und ist einfach mein Innerstes. Ich konnte immer umsetzen, was mir wichtig war. Ein wenig hat das alles etwas von Zigeunermusik. Den Titel "Mein Freund der Zigeuner" gab es ja auch schon zu DDR Zeiten. Zugegeben, ich fühle mich im jazzigen Swing und Blues sehr, sehr wohl. Der überhaupt erste, damals im Rundfunk in Weimar aufgenommener Titel von Jürgen Kerth und Band "Fast wie die Alten sungen", ging bereits in diese Richtung. Swing leicht angejazzt. Ich wollte dem Kommunismus genauso den Swing entgegensetzen, wie er gut 30 Jahre zuvor den Nazis als Form des kulturellen Widerstandes entgegengesetzt worden war. Mein Credo war: Wer swingt, kann nicht brutal sein, der ist immer elegant und frei. Diese Eleganz nach dem Prager Frühling in die DDR zu bringen war mein Antrieb für diese Musik. Irgendwann hab ich mal gesagt: Meine Lieder sind Grüße durch die Gitterstäbe der DDR. Grüße an alle musikalisch Gleichgesinnten.

 

Welche Vorbilder hat Jürgen Kerth musikalisch?
Alle guten Musiker. Mir gefallen die Anfänge des Bebop und Jazz. Louis Armstrong und Ray Charles zum Beispiel sind großartige Musiker. Soul und Funk gefallen mir ebenfalls. Da wird gerade viel im Bayrischen Rundfunk gespielt, was mir natürlich sehr gefällt.

 

Ich frage noch mal direkter. Was hältst Du von einem Vergleich mit zum Beispiel Eric Clapton?
Nicht so viel. Das hängt sicher immer mit dem persönlichen Erleben des Zuhörers zusammen. Auch wenn mir in Amerika mal jemand sagte: Du könntest Clapton nervös machen... (lacht) So ein Vergleich schmeichelt, ist aber doch nicht zutreffend. Jeder hat seine Vorlieben und eine eigene Spielweise, diese umzusetzen. Und ein wenig von diesem oder jenem Musiker findet sich in einzelnen meiner Stücke durchaus wieder. Allerdings nicht gecovert, sondern immer in der Art und Weise Jürgen Kerths. Ob Santana oder Gallagher, ob Hendrix, B.B. King oder George Benson - irgendwie haben sie mich alle beeinflusst.

 

Bleiben wir in den USA. Was zog Kerth so schnell nach Grenzöffnung in die USA? Die Wurzeln des Blues?
Ich habe immer gesagt, ich hab Amerika im Herzen, aber ich bleibe wegen der Büsche und Bäume meiner Kindheit. Zu Ostzeiten wäre ein Weggang das Ende von Heimat und diesen prägenden Werten gewesen. Mit der Wende bot sich die Möglichkeit dieses Land besser kennen zu lernen. Und die hab ich ausgiebig genutzt. Ich war fast 12 Jahre immer wieder in den USA, habe dort Freunde gefunden und viel und gern Musik gemacht. Das letzte mal, als wir in den USA waren, haben wir dort 25 Muggen in ¼ Jahr gespielt. Teilweise mit namhaften Leuten der dortigen Szene. Das ging soweit, dass wir in Florida so zu sagen gelegentlich und freiwillig im Wahlkampf für Al Gore unterwegs waren. Nicht dafür, sondern damit die Amerikaner besser verstehen was ich singe, hab ich meine bekanntesten Titel vorher in englisch produziert. Das Album heißt "Made for USA".

 

004 20121203 1955813190Andererseits bist Du schon lange nicht mehr in den USA gewesen. Wo liegen die Ursachen?
Das ist meine Reaktion auf George W. Bush. Wir waren so zu sagen live dabei, als der Skandal mit den manipulierten und nicht gezählten Stimmen ablief. Zudem hatten wir uns direkt für Gore engagiert. Unglaublich wie das da ablief. Jedenfalls hatte das alles etwas, mit dem ich mich ganz und gar nicht arrangieren wollte. Das war ja beinahe wie zu SED Zeiten in der DDR. Und dazu kommt, gleich als Bush zum Sieger erklärt wurde, mit einer Stimme im Supreme Court, dem obersten Gericht der USA, habe ich gesagt, jetzt gibt es Krieg. In einem Land, mit solchen Bedingungen wollte ich nicht leben und arbeiten. Daher freu ich mich, dass die Amtszeit Bushs zu Ende geht. Ich hoffe mal, dass sich dann wieder vernünftige Zustände einstellen und sich die progressive Hälfte des gesellschaftlichen Gewissens durchsetzt.

 

Bist Du ein Gutmensch?
Zunächst muss man mal sagen, dass dieser Begriff auch von den Nazis herabgewürdigt wurde. Wallraff hat das mal irgendwo sehr schön dargestellt. Und ansonsten würde ich mir ein solches Urteil nicht erlauben. Mein Motto ist "Wehret der Anmaßung". Dennoch halte ich es für wichtig, sich für eine höhere Gerechtigkeit einzusetzen . Das sollte eigentlich für jeden ein Bedürfnis sein. Dass es das allzuoft nicht ist, weiss ich allerdings auch. Im Alltag werden solche Menschen oft ausgenutzt, belächelt und zur Seite geschoben oder wenn sie Öffentlichkeit und Erfolg erreichen, bekämpft. Das war auch in der DDR so.

 

Das klingt nach eigener Erfahrung....
Ja, zum Teil. In der DDR hab ich bis 1981 drei LP’s machen können. Danach gab man mir schriftlich, dass ich nicht mehr gebraucht werde und es keine weiteren Schallplatten von Jürgen Kerth mehr geben würde. Für die Gitarreros zum Beispiel wurde ich mit keiner Silbe erwähnt, obwohl mich das Publikum mehrmals zum Gitarristen des Jahres gekürt hatte. Als das Musikjournalisten und Kulturfunktionäre taten, war ich dann weg von diesen Listen. In meinen Konzerten brannte allerdings immer noch die Luft. Sie waren zumeist richtig gut besucht. Alle Versuche, doch noch etwas auf Platte oder im Rundfunk zu machen, nutzten nichts. Dabei gab es fertiges Material für mehrere LPs. Nicht mal Luise Mirsch konnte helfen.

 

Damit sind wir wieder bei Deiner Musik. Warum spielte einer der besten Gitarristen nicht bei einer der großen Bands, sondern blieb in Erfurt? Hatte das Auswirkungen auf Eure Musik?
Angebote gab es ja. So hatte mich Uve Schikora mit 'ner Amerikatour gelockt. Ich hab abgelehnt, da ich überzeugt war, das auch allein schaffen zu können. Ich wusste, dass wir gut waren und bekam das auch von anderer Seite schon mal bestätigt. 1980 lief "He, junge Mutti" im Deutschlandfunk Köln mit der Moderation: "Kerth – ein aufstrebender DDR Musiker". Luise Mirsch sagte mal: "Kerth ist das Beste, was wir haben". Ich hoffe, sie hat das ernst gemeint (lacht). Also sagte ich damals: "Nein, ich hab 'ne eigene Band." Und dann wollte ich nicht nach Berlin gehen. Das hat uns nicht geholfen. Wenn wir zum Beispiel Aufnahmen machten, war das oft abenteuerlich. Mitten in der Nacht für vier Stunden, mehr Zeit gab's nicht. Der Toningeneur von der Post und der Tonmeister vom Rundfunk, dazu 'ne Erfurter Band und kaum Zeit, irgendwas zweimal zu machen... Aber so entstand der echte Kerth Sound (lacht). Leider wurden unsere LPs immer nur in begrenzter Auflage gepresst. Es gab immer nur 30000 je Album. Nachauflagen gab's nicht, obwohl die Platten schnell weg waren. Ob's daran lag, das unsere Lieder komplett von uns selbst geschrieben wurden und damit weder Väterchen Staat noch irgendein Funktionär oder Schreiber einen Pfennig dran verdienen konnte... ich hab keine Ahnung. Die offizielle Begründung damals war, wir haben nicht genug Bitumen. Heute weiss man, das Platten mit sehr hoher Auflage gemacht wurden, aber meist nur von Bands, deren Musik auch in den Westen verkauft wurde und an denen immer der ein oder andere mitverdiente. Das Prinzip ist ja heute nicht wesentlich anders. Nur die Leute, die im Musikgeschäft Geld verdienen, sind andere. Die meisten Musiker werden von Ihrer Musik in der Regel immer noch nicht reich. Und die niedrigen Auflagen hatten natürlich auch den Nebeneffekt, dass andere Namen letztlich viel bekannter wurden als Kerth, der nicht so sehr beworben wurde, den man eben vornehmlich in Fankreisen kannte. Na, und ab 1982 wurde es dann ja ganz schwer. Da durfte ich nur noch spielen, aber keine Platten machen, obwohl es dafür eigentlich sogar schon konkrete Vorbereitungen und Pläne gab.

 

Warum wurde Kerth quasi verboten?
Wie gesagt, verboten wurden wir nicht. Man teilte uns nach der LP "Gloriosa" lediglich mit, dass wir keine Platten mehr machen dürften, weil man alles aufgearbeitet habe und daran kein Bedarf mehr bestehe. Begründet wurde da nichts. Aber der Auslöser waren wohl unsere Texte. Als wir im Lied "Gloriosa" ziemlich deutlich sagten, es gibt da wohl noch etwas anderes, als den ruhmreichen Sozialismus, hat es wohl irgendeinem Funktionär gereicht. Das wir das Lied mit den Worten "Und warum soll man nicht mal etwas andächtig sein?" zu Orgelmusik ausklingen ließen und damit ganz deutlich auf Religiösität ansprachen, das war dann doch etwas viel. Das Lied wurde von linientreuen "Musikkennern" dann auch gehörig verrissen. Die lange geplante Platte mit Instrumentals und eine neue LP mit Titeln wie "Sag mir was du willst", "Ich hab nichts getan" oder der "Frühlingsmelancholie" in einer frühen Fassung wurden in Frage gestellt und schließlich abgesetzt. 1987 gab es nochmal fast das geplante Instrumentalalbum, das "Biene" Albrecht produzieren sollte, aber nachdem alles fertig war, stellte man fest, dass die Titel rauschten und stampfte alles ein. Es ist schon ein ganz komisches Gefühl, wenn man über Jahre nicht in Händen halten kann, was man geschaffen hat. Und dann entscheidet irgendwer, dass man sich nicht mehr so äußern darf… Dabei hatte ich noch ein kleines Handicab. Ich hab mich schon immer zurückgehalten, wenn es um den Kontakt mit den Institutionen und so etwas ging. Das hab ich meiner Frau überlassen, die daher auch ganz großen Anteil hat, dass es überhaupt Platten von Kerth gab. Aber das kann sie auch allein erzählen. (lacht und übergibt an seine Frau Barbara) Alles, was nach Institutionen aussah, war und ist nicht die Sache meines Jürgens. Jürgen sagte schon mal: "Ich geh da nicht hin. Wenn die was wollen, sollen sie allein kommen." Die Konzerte waren ja voll und einige Rundfunkproduktionen gab es ja auch, die sehr gut liefen. Trotzdem sagte ich zu Jürgen, dass es so nicht geht. Worauf er meinte: "Dann geh Du!" Daher durfte ich zur Künstleragentur, zur KGD und was es alles so gab. So bin ich auch nach Berlin gefahren und wollte am Reichtagsufer eine Kassette mit Jürgens Musik vorstellen. Da war aber niemand und ich wurde in die Brunnenstraße geschickt. Als ich da ankam, wusste man bereits alles, einschließlich aller meiner Fagen zu den Leuten, die ich suchte. Dort war man auch nicht wirklich offen für mein Anliegen. Aber zumindest schaffte ich es nach einer Weile und ein paar Runden, einen Termin für den nächsten Tag zu vereinbaren. Die Kassette einfach so abzugeben, das wollte ich nicht, da hatten wir bereits schlechte Erfahrungen. So bin ich am nächsten Tag wieder zum Reichstagsufer und dort hörte man sich auch wirklich das Band an. Und die waren begeistert. Der holte seinen Chef und sagte: "Hör Dir das mal an. Das machen wir!" Ja und so kam Jürgen zu seiner ersten Platte. Die Ablehnung gegen Institutionen hat er sich bewahrt (lacht). Als er den Kulturpreis der Stadt Erfurt bekam, hätte er ihn sich am liebsten schicken lassen (lacht), wäre am liebsten nicht mal hingegangen. Egal was kam, Jürgen hat sich das immer gewünscht – mit Leistung überzeugen und möglichst nicht Klinken putzen. So auch beim Film über den Trainer Muhamed Alis, Angelo Dundee. Da kamen die Produzenten auf ihn zu, um den Titel "Journey" im Film zu verwenden. Die staunten nicht schlecht, dass Jürgen Deutscher ist. Der Titel wurde also genommen und so gibt es jetzt irgendwie auch Kerth Filmmusik. Der Titel ist übrigens einer von denen, die nicht produziert wurden, weil sie rauschten (lacht). Aber jetzt soll Jürgen mal selbst weiter machen.

 

Wenn wir gerade dabei sind, ist "Bye, Bye Lübben City" auch Jürgen Kerths Buch zum Blues in der DDR?
Zu dem Buch wurde ich ja auch persönlich befragt. Ich finde mich schon deshalb natürlich in einigen Passagen durchaus wieder. Aber in vielen, speziell auch Erfurt betreffenden Teilen, ist es nicht mein Buch. Da kommen Leute zu Wort, die uns das Leben vor der Wende recht schwer machten. Heute möchten sie die großen Förderer gewesen sein und vergessen schon mal, dass sie uns Auftritte verweigerten, weil man "den Erfurtern auch mal Reis, statt nur Kartoffeln bieten" wollte. Wir waren für diese Leute "Kartoffeln"… Derartige Kleinigkeiten hat der ein oder andere Schreiber vergessen zu erwähnen. Dass das nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt sogar ein Artikel aus Vorwendezeiten, wo man diese Argumente nach einem grandiosen Konzert auf der IGA in der Erfurter Zeitung in Frage stellte. Mutig damals. Vergessen hab ich das alles nicht, auch wenn man diese Geschichten nicht vor sich her tragen muss.

 

Wie fühltest Du Dich, als 1991 dann wieder ein Kerth Album erschien?
Das erste Album und auch das 2000 erschienene sind ja gewissermaßen Wiederauflagen der alten Titel. Aber dass die Titel nochmal aufgelegt wurden, war schon schön. Zwischenzeitlich war ich ja auch in den USA und habe dort Musik gemacht. Aber in gewissem Sinn haben die vielen Jahre ohne Platte bis heute Nachwirkungen. Unveröffentlichte und neue Titel durchzusetzen, war ein echter, fast unmöglicher Kraftakt. So hab ich einige Alben dann ja auch allein herausgegeben.

 

Wie kam es zum englischsprachigen Album "Made for USA", wo die größten Kerth-Hits auf Englisch drauf sind? So ein Album ist für einen Musiker aus dem Osten ja eher ungewöhnlich und auch ein wenig riskant, oder?
Ich bin ja in Amerika auf Tour gegangen. Dazu brauchte ich eben auch Material, das die Amerikaner verstehen konnten. Länger nur mit Instrumentals unterwegs zu sein, wäre sicher auch nicht gegangen. Außerdem sind die Titel, die auf der LP drauf sind, ja sehr wichtig für mich. So hab ich sie halt übersetzen lassen und, nachdem es in Amerika ganz gut lief, auf CD herausgebracht. Eine recht lustige Geschichte war die Übersetzung von "Leben mit ihr". "Living with her" hat mir eine Deutschamerikanerin beim Flug in die Staaten im Flugzeug übersetzt (lacht). Das ist sehr gelungen, so dass mir amerikanische Freude mal sagten: "Man hört keinen Unterschied zu amerikanischen Liedern, wenn du singst. Weder, dass sie aus dem deutschen übersetzt sind, nochs dass du Deutscher bist, bekommt man mit, wenn du singst und spielst." Das hat mich natürlich sehr gefreut.

 

Da möchte ich doch einhaken. Du standest mit B.B. King auf einer Bühne. Wie war das nun genau?
Ja! Ich stand neben ihm... (lacht). Eigentlich war ich im Publikum bei einem Konzert von ihm. Irgendwer erkannte mich und bat mich, hinter die Bühne zu kommen. Das hab ich getan. Kurz danach wurde mir gesagt, ich solle doch auf die Bühne gehen, wo ich als einer der besten deutschen Bluesmusiker vorgestellt wurde. Als King mich in den Arm nahm, gab es einen Aufschrei, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört hatte. Ich war ja auch reichlich überrascht und ein wenig nervös. Ich habe dann ein kleines Wort falsch verstanden, und so nicht mit ihm gespielt, sondern nur neben ihm gestanden. Ich meine, er fragte: "Can we play something together?". Der Jubel unten, die Aufregung, ich hab ja nicht für möglich gehalten, dass er wirklich mit mir hätte spielen wollen... Jedenfalls antwortete ich: "Everytime!" und bin anstatt an eine Gitarre von der Bühne gegangen. Ich hatte für mich aus something, sometimes oder so gemacht, freute mich, dass B.B. King mit mir irgendwann vielleicht mal spielen würde und er meinte den Augenblick... Ich hab ihn einfach falsch verstanden. Meine Frau sagt, King habe recht verdutzt hinter mir her gesehen, als ich anstatt zur Gitarre von der Bühne ging. Miteinander gespielt haben wir leider dann niemals. Aber ein Foto von diesem verrückten Tag, wo ich neben ihm stehe, gibt es.

 

Wäre das denn überhaupt gegangen mit einer anderen Gitarre? Sie spielen "Die Eine" seit 40 Jahren. Was ist "Die Eine" überhaupt für ein Zauberinstrument?
Ich behaupte ja: "Das Instrument spielt den Musiker." Es gibt ganz verschiedene Instrumente. Sie haben, obwohl sie alle ganz ähnlich aussehen, doch sehr verschiedene Eigenschaften und bringen diesen oder jenen Stil besser zur Geltung, als es ein anderes Instrument der gleichen Marke kann. Von den unterschiedlichen Arten mal ganz zu schweigen. Mit einer Konzertgitarre Rock spielen zu wollen, ist nicht so einfach... Und mit einer E-Gitarre klassische Musik zu spielen, klingt auch selten, wie sich die Komponisten das vorstellten. Ich behaupte, der Klang eines Instrumentes verführt den Musiker zu bestimmten Aktionen. Wenn man eine Zither vor sich hat, wird man eben den "Dritten Mann" spielen (lacht). An meiner Gitarre mochte ich ihre Eigenschaften vom ersten Ton an. Sie passte perfekt zu dem, was ich machen wollte, bot sehr vielen Spielarten Möglichkeiten. "Die Eine" ist eine mittelteure Gitarre aus Klingenthal der Marke MIGMA (Musikinstrumenten Handwerker-Genossenschaft Markneukirchen – gibt es noch heute – Anm. d. Verf.). Sie kostete mal so um 600 Mark, was damals eine ganze Stange Geld war. Eigentlich ist es eine Halbresonanzgitarre, die ich so umgebaut habe, wie ich es brauchte. Der Grund für den ersten Umbau war 1974 unsere Hammond Orgel. Die war auf exakt 50 Herz gestimmt. Und die bot das DDR Stromnetz nicht immer. So war ich oft gegen die Orgel verstimmt und musste der Orgel folgen. Wenn ich an der normalen Kopfplatte hätte nachstimmen müssen, hätte ich ja immer aufhören müssen, zu spielen. So hab ich eben die Stimmung nach unten in den Körper der Gitarre gebastelt und das funktionierte. Im Grunde war ich den ersten funktionierenden Gitarren ohne Kopfplatte von Steinberg sechs Jahre voraus. Leider hab ich da kein Patent drauf (lacht). Ein anderes Problem, das ich mit einem kleinen Umbau gelöst habe, waren die Rückkopplungen. Besonders mit den alten Ost-Tonabnehmern konnten die bei meiner Halbresonanzgitarre schnell mal entstehen. Da schwang der ganze Korpus mit. Deswegen habe ich in den Korpus ein durchgehendes Teil eingebaut, so dass sie ein paar Eigenschaften einer Brettgitarre bekam. Das war dann fast wie die Elle von Meister Nadelöhr (lacht). Ja und irgendwann hab ich mir auch mal eigene Abnehmer gebaut und so die Rückkopplungen weitgehend beseitigt.

 

Ich möchte nocheinmal zurück zur "Gloriosa". Ich hab gelesen, dass es den Titel schon vorab als Instrumentalstück gab. Stimmt das?
Ja, das Instrumental gab es. Den "Gloriosa Blues" hatten wir im Sender Leipzig aufgenommen. Es gab sogar noch ein weiteres Stück, das wir in Richtung schwarzer Musik gespielt haben. Allerdings weiss ich gar nicht mehr, ob wir das auch "Gloriosa" genannt haben. Aber es war das Thema. Und auch einige andere Titel haben sozusagen eine gemeinsame Vorgeschichte. Ich meine damit, dass ich musikalische Themen gelegentlich mal variiert und in anderen Stücken wiederverwendet habe. Was ich für völlig normal halte und was große Musiker - sogar Bach - ja auch gelegentlich machten. Gelegentlich gab's auch mal eine Textidee, zu der ein Instrumental einfach passte. Ein Beispiel ist "Oh, wie würd ich Euch beneiden". Da gab's zuerst "Kerths Shuffle", das der Band schon sehr gefiel. Roland Michi sagte damals: "Das muss in die Welt!" Und mit Text ist es ja dann auch auf der LP "Gloriosa" erschienen. Der Mensch ist der beste Zufallsgenerator, wenn es um Musik geht. Je nach Stimmung und Gegebenheit spielt man einen Titel mal so und mal so. Was ein Musiker dem Publikum sagen will, danach richtet sich die Art, einen Titel zu spielen. Musik kann vieles beim Zuhörer bewirken. Und ein Musiker kann das mit seiner Spielart beeinflussen. Ein guter Musiker ist seinem Publikum gegenüber aufgeschlossen und spürt, was es hören will, worauf es anspricht. Und dann wird, zumindest bei uns ist das so, aus dem Gerüst eines Liedes das ganz konkrete Stück. Ich kann niemandem sagen, wann ich welche Töne live spiele. Wie gesagt, die Melodie ist da, aber die Umsetzung erfolgt immer im jeweiligen Augenblick des Spiels. Das ist selbst im Studio so, nur dass man da solange feilen kann, bis ein Stück gefällt. Und dann kommen zu einzelnen Themen ja immer mal neue Gedanken. Ich hab so einige Titel im Lauf der Zeit immer wieder mal neu interpretiert.

 

Damit sind wir im heute angelangt. 2006 gab es wieder ein Kerth Album. Dieses mal bei einem Majorlabel mit vielen neuen Titeln. Wie kam es dazu und woher stammen die Titel?
Ich hatte ja allein eine Platte mit nicht im Osten erschienenen Titeln herausgebracht ("Come on, lasst uns uns're Wunden lecken" – Anm. d. Verf.). Von daher wusste ich, was das an Arbeit bedeutet. Dann war da der durchaus vorhandene Erfolg in den USA und es gab ja noch reichlich Stücke, die noch herauszugeben waren. AMIGA erinnerte sich daran und so kam ich zu einem Album bei einem Majorlabel. So zu sagen ein wenig späte Reputation (lacht). Die Titel sind ja aus allen Phasen Kerths und allen möglichen Stirichtungen zusammengestellt. Ein sehr schöner Querschnitt, der in der Form bis dahin nicht existierte und einige Titel neu arrangiert beeinhaltet. Allerdings frag ich mich schon, wie ein Verkäufer bei Amazon die Orginal CD für 4,95 Euro neu vertreiben kann. Ob das alles so sauber ist, ob ich da je einen Cent Tantiemen davon sehe…? Aber die Titel überhaupt herausbringen zu können, war mir schon wichtig.

 

Jürgen Kerth ist im Melodie- und Rhythmuskalender 2008 abgebildet. Auch späte Reputation?
Ne, eher nicht. Zumal die Zusammenstellung recht eigenwillig ist. Mit dem Einen oder Anderen wäre ich, wenn es nach mir gegangen wäre, lieber nicht in einem Kalender abgebildet worden. Aber eigentlich tut das nicht wirklich weh. Und anderen geht es vielleicht wie mir.

 

Dein Sohn Stefan ist der erste Bassist nach Roland Michi, mit dem Du wieder regelmäßig spielst. Ist das die logische Fortsetzung der fast familiären Beziehungen in Deiner Band, die immer als verschworene Gemeinschaft galt?
Ja und nein. Roland Michi war ein ganz enger Freund. Sein Tod hat mich sehr berührt. Und man kann eh keinen Menschen wirklich 100%ig ersetzen. Roland war manchmal schon etwas radikal. Ich erinnere mich noch, dass er 1979 auf einen Tisch stieg und laut verkündete, das Russische Reich werde untergehen wie das römische. 10 Jahre gab er ihm damals noch. Auch ansonsten nahm er selten ein Blatt vor den Mund. Und gewissermaßen ist sein Tod ja auch mysteriös. Er kam als geheilt aus psychiatrischer Behandlung und war wenige Tage später tot. Vielleicht waren es auch diese Umstände und die besondere Beziehung, die ich zu ihm hatte, die dazu beitrugen, dass die Kerthband lange keinen Bassisten hatte. Kerth als Familienband hat ja in den letzten Jahren Tradition. Gerade weil wir ja auch viel in den USA unterwegs waren und dort auch Musik machten. Auch mein Sohn Christoph spielte ja bis zu seinem Tod mit uns. Heute haben wir da wechselnde Schlagzeuger und mein Enkel trommelt auch, hat sozusagen das Musik-Gen geerbt. Stefan wird von gestandenen Leuten Talent bis Klasse als Bassist bescheinigt und es macht Riesenspaß, mit ihm zu spielen. Er hat auch einige erfolgreiche Titel geschrieben und ein eigenes Label gegründet. Wenn es nach ihm geht, werde ich mich da künftig stärker engagieren. Allerdings hab ich noch viel Spaß daran, selbst auf der Bühne zu stehen. Die spontanen Reaktionen der Fans und vielleicht noch einmal ein kleines Wunder wie die Filmmusik, das sind unverändert Dinge, die mir Antrieb genug sind. Und verschiedene Dinge anderer Musiker verfolge ich sehr aufmerksam.

 

Was meinst Du genau?
Stefan arbeitet an einer eigenen CD. Dabei soll ich im Studio helfen und werde wohl auch bei einigen Titeln mitspielen. Dann ist da noch Clueso. Der Junge erinnert mich in ganz vielem an meine eigene Anfangszeit. Das betrifft seine Musikalität genauso wie seinen Gestus, die Art, auf der Bühne in Musik zu versinken und einiges mehr. Das kommt mir, wie gesagt, teilweise recht bekannt vor. Und es macht Spaß, seinen eigenen Weg irgendwie ein bisschen noch einmal gehen zu können (lacht). Clueso hat einen Titel von mir erfolgreich gecovert und wir haben ein paar Auftritte miteinander gehabt. Mit Stefan gab es weitere Sachen und wir können uns schon vorstellen, wieder miteinander Musik zu machen.

 

Eine letzte Frage. Jürgen Kerth ist Botschafter des Kinderhospiz Nordhausen. Hat dieses Engagement mit Deinen persönlichen Schicksalsschlägen zu tun? 
Das weniger. Ich bin ein religiöser Mensch und konnte schon von daher die Anfrage für mich nicht ablehnen. So ernst das Thema an sich ist, hat es doch auch eine lustige Seite. Als Botschafter bekam ich so ein Abzeichen, eine Anstecknadel. Das war das erste Abzeichen einer Organisation, dass ich jemals getragen habe. Und das sogar freiwillig (lacht).

 

Ich bedanke mich ganz herzlich für das ausführliche Gespräch und wünsche Dir für alles, was Du demnächst angehst, gutes Gelingen.

 
Interview: Fred Heiduk
Bearbeitung: kf, cr